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Kultur: Staat als Beute

Von Hans-Martin Lohmann Spiel mir das Lied von der Börse. Nichts vermochte Millionen von Deutschen vor ein paar Jahren stärker in Erregung zu versetzen als das wundersame Versprechen, aus wenig Geld mit einem Schlag viel Geld machen zu können.

Von Hans-Martin Lohmann

Spiel mir das Lied von der Börse. Nichts vermochte Millionen von Deutschen vor ein paar Jahren stärker in Erregung zu versetzen als das wundersame Versprechen, aus wenig Geld mit einem Schlag viel Geld machen zu können. Bei der Erstemission der Telekom-Aktie, sinnigerweise auch „Volksaktie“ genannt, setzte ein wahrer Run auf das begehrte Objekt ein: Rentner plünderten ihre Sparbücher, Familienväter kündigten Lebensversicherungen, konservative Anleger wechselten ins spekulative Fach, weil alle um jeden Preis dabei sein wollten, als die „deutsche Aktienkultur“ 1996 ihre triumphale Geburt erlebte.

Seit das Geschehen an der Wall Street und der Frankfurter Börse, das Auf und Ab von Dow Jones, DAX und Nemax zum Bestandteil der täglichen Nachrichtensendungen geworden ist, kann man in Deutschland wohl endgültig von einer etablierten „Aktienkultur“ sprechen. Daran dürfte auch die Tatsache nichts ändern, dass auf die Euphorie des Anfangs die Depression nach dem Crash folgte und Millionen Anleger, von den einschlägigen Medien gern als „clevere Anleger“ umschmeichelt, am Ende frustriert in die Röhre schauen mussten. Die nächste Rally kommt bestimmt.

Was es mit der so genannten deutschen Aktienkultur auf sich hat, kann man jetzt erstmals in kritischer Kondensation bei der Psychoanalytikerin Katherine Stroczan, Jahrgang 1952, nachlesen, die am Frankfurter Psychoanalytischen Institut lehrt. Nach all den Büchern und Broschüren, die Tipps und Ratschläge zur spekulativen Geldvermehrung verabreichen, überlässt man sich mit Vergnügen einer Lektüre, die auf ironisch-spielerische Art, aber auch mit einem gehörigen Schuss Bosheit den Wahncharakter des entfesselten Volksbegehrens bloßlegt. Denn was anderes als Wahn ist es, wenn Millionen Anleger auf der Basis windiger Prognosen und Versprechen glauben, gleichsam über Nacht reich werden zu können? Zu den Vorzügen von Katherine Stroczans Buch gehört nicht zuletzt, dass es detailgenau nachzeichnet, wie der „Dialog“ zwischen Börsenzeitschriften, TV-Börsensendungen und sogenannten Experten einerseits und dem beratungswilligen Publikum andererseits funktioniert, welchen Gesetzen er gehorcht und welche Bedürfnisse er bedient.

Die Bindungsstrategien der Medien, der Seifenoper, also dem Familienmodell nachempfunden, fördern der Autorin zufolge regressive Bewegungen, die archaische Wünsche wiederbeleben und latente Pathologien aktivieren. Die Börse avanciert zur Projektionsfläche für das ganze Spektrum infantiler Wünsche und Phantasien zum omnipotenten Primärobjekt. „Börse total“ (so ein Werbeslogan) deutet Stroczan als eine jenseits des Realitätsprinzips angesiedelte Pseudowelt, in der die ödipale Ordnung außer Kraft gesetzt ist – eine entsublimierte Welt, welche die strukturstiftende Wirkung des Gesetzes zugunsten eines Wahnsystems aufhebt. Man kann auch sagen: Börsenfreaks lügen sich in die eigene Tasche. Oder eben nicht.

Mit Recht wundert sich die Autorin darüber, dass jene unsublimierte Gier, die alle herkömmlicherweise vom Über-Ich postulierten Scham- und Schuldaffekte aushebelt, und die mediale Auslegung des Börsenhandels, die private Pathologien – von oralsadistischen über zwangsneurotische bis zu narzisstischen – gesellschaftsfähig macht, als Kulturleistung ausgewiesen werden. An dem Oxymoron „Aktienkultur“ diagnostiziert sie die Negation von Kultur – Aktie und Kultur schließen einander aus. Denn Kultur, so Stroczan in Anlehnung an Freud, sei triebökonomisch auf Versagungen aufgebaut. Dagegen kennt das Anleger-Über-Ich, formaldem Normal-Über-Ich nachgebildet, aber dieses subvertierend, keinerlei Triebverzicht, sondern allein den Imperativ des Erfolgs. Das einzige Verbot des Börsen-Über-Ichs gilt der Erfolglosigkeit. Was dieser perverse Imperativ jedoch mit Kultur zu tun haben soll, bleibt das Geheimnis jener, die mit der „Volksaktie“ die „deutsche Aktienkultur“ erfunden haben.

Nur indirekt kann man Stroczans geistreichem, mit vielen genauen Beobachtungen, Reflexionen und Fallgeschichten gewürztem Buch entnehmen, was mit der Durchsetzung einer „Aktienkultur“, mit der hemmungslosen Sozialisierung privater Laster und Pathologien wirklich auf dem Spiel steht.

Auf dem Spiel steht, pathetisch formuliert, die Zukunft des Gemeinwesens, der res publica. Jedes Gemeinwesen zehrt von der aktiven Teilnahme der Bürger an den Belangen von allgemeinem, überindividuellem Interesse – ohne solche Teilnahme verkommt das Gemeinwesen zum Tummelplatz unzähliger Egoismen, privater Vorteilsnahme und persönlicher Erfolgsstories.

Das Italien Silvio Berlusconis demonstriert auf bedenkliche Weise, was es bedeutet, wenn der Staat und seine Organe zur Beute partikularer Interessen werden. Wenn der Staatsbürger zum Aktienbürger mutiert – und nichts anderes verspricht die „deutsche Aktienkultur“ –, haben die Ideen eines aktiven Republikanismus ausgedient. Ein ceterum censeo zum massendemokratischen Börsengeschehen, das in die heute fast ausgestorbene Tradition der klassischen Aufklärungsliteratur gehört, die Katherine Stroczan mit diesem Buch über den „homo investor“ eindrucksvoll belebt .

Katherine Stroczan: Der schlafende DAX oder das Behagen in der Unkultur. Die Börse, der Wahn und das Begehren. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 110 S., 17, 50 €.

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