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Wenn’s Nacht wird in Paris. Boris Kudlicka schuf das Hotel-Bühnenbild.

© Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

Staatsoper: Bube, Dame, König – krass

An der Staatsoper entdecken Magdalena Kozena und Simon Rattle Emmanuel Chabriers "L’étoile". Hier kann man sich hemmungslos an der spritzigen Musik erfreuen.

Sie hatten wirklich Spaß damals, im „Cercle des Mirlitons“, dem Künstlertreff an der Pariser Place Vendôme: Sicher, 1871 war der Krieg gegen die Deutschen verloren – aber gerade in der Musik entpuppte sich das Scheitern als Chance. Angefacht vom nationalen Selbstbehauptungswillen konnten sich die Komponisten endlich von den übermächtigen rechtsrheinischen Vorbildern lösen, von Beethoven und Wagner. Der „Cercle“ wurde zum Treffpunkt der Bewegung, hier konnte sich der esprit français frei entfalten, hier experimentierten arrivierte Staatsschauspieler, Kabarett-Girls und aufstrebende Tonsetzer mit neuen Formen. Emmanuel Chabriers Operette „L’étoile“, die Simon Rattle und seine Frau, die Mezzosopranistin Magdalena Kozena, am Sonntag an der Staatsoper herausgebracht haben, ist eine der schönsten Früchte dieser belle époque der Pariser Kulturgeschichte.

Chabrier, der untersetzte Kerl aus der Auvergne, der tagsüber als Beamter im Innenministerium schuftete, war immer mittenmang, wenn es darum ging, die Macht der Musik zu feiern. Seine Heiterkeit, seine Selbstironie, seine Neugier bescherten ihm viele Freunde unter den Avantgardisten. Manet und Degas malten ihn, Baudelaire und Verlaine lieferten Texte, Debussy, Ravel und selbst Strawinsky schätzten ihn als einen Großen ihrer Zunft.

Dennoch gelang Chabrier bis zu seinem Tod 1894 nur ein einziger dauerhafter Erfolg: Sein Sechsminüter „Espana“ ist das vielleicht am elegantesten instrumentierte Stück Unterhaltungsmusik überhaupt. Es gehört bis heute zum Kernrepertoire und wurde mit dem Text „Wenn die Rosen erblühen in Malaga“ sogar in Deutschland zum Schlagerhit. Als Bühnenautor war er ein echter Pechvogel: Kaum spielte man in Brüssel seine „Gwendoline“, ging das Theater pleite. Die Pariser Opéra Comique brannte nach der dritten Vorstellung seines „Roi malgré lui“ ab. Die Erfolgsserie von „L’étoile“ wurde am 49. Abend jäh unterbrochen, da der Intendant der Bouffes-Parisiens den Librettisten des Stücks ab der 50. Aufführung deutlich erhöhte Tantiemen hätte zahlen müssen.

Es wäre eine lohnende Investition gewesen. So aber ließ die Knauserigkeit des Theaterleiters das Stück zu einem Mythos unter Musikern werden, einem Meisterwerk, dessen Namen (und Klavierauszug) man von Generation zu Generation weiterreichte. Dass sich Simon Rattle für den schwarzen Humor des Textes wie die musikalischen Gags der Partitur begeistern konnte, verwundert nicht. Also schlug der Chef der Berliner Philharmoniker kurzerhand „L'étoile“ vor, als ihn die Staatsoper bat, sich etwas für die letzte Premiere Unter den Linden vor dem Umzug ins Schillertheater auszusuchen. Und weil Sir Simon so ein reizender Mensch ist, lässt Daniel Barenboims Staatskapelle für ihn tatsächlich einmal ihren dunklen, deutschen Traditionsklang fahren: Lässig und lärmig, auf raffinierteste Art vulgär hebt die Ouvertüre an, mit dumpfer Pauke und scheppernden Becken, zu denen sich bald Triangel und Piccoloflöte gesellen, mit frechen Trompeten, die die Stimmung aufputschen, bis alles in den obligatorischen Cancan-Taumel mündet. Ästhetisch, das macht Rattle deutlich, ist Emmanuel Chabrier 1877 eine Generation weiter als Jacques Offenbach, setzt die Orchesterfarben viel differenzierter ein als der Operetten-Urvater, schlägt in den lyrischen Passagen sensiblere Töne an, webt die Stimmen feiner in den Ensemblenummern – um dort, wo’s am Platze ist, auch wieder richtig loszurumpeln.

Auf der Bühne finden sich erste Kräfte des seriösen Fachs zusammen, um Simon Rattle bei seinem musikalischen Spaß zu unterstützen: Juanita Lascarro ist eine hinreißend naive Prinzessin Loula, Stella Doufexis gibt ihre zynische Freundin Aloès. Bei Jean-Paul Fouchécourts König Ouf meint man den französischen Präsidenten Sarkozy vor sich zu haben, gespielt von Christoph Waltz. Zum Herzbuben des Abends aber wird Magdalena Kozena in der Hosenrolle des Lazuli: Zwischen all den Knallchargen ist sie der einzige normal denkende Mensch. Mit rückhaltlosem stimmlichen Einsatz zeichnet sie das Porträt eines liebenden Jünglings, der – angetan mit der aktuellen Teenager-Uniform aus Röhrenjeans, Chucks und Pepitahütchen – eine betörende metrosexuelle Anziehungskraft verströmt.

Schade nur, dass Regisseur Dale Duesing das erotische Potenzial des Stücks so unterspielt. Dass er aus der promisken Vorlage eine adrette Abendunterhaltung macht – hübsch anzusehen, aber absolut keimfrei wie das Hotel-Bühnenbild von Boris Kudlicka. So bieder aufbereitet hätte selbst Anneliese Rothenberger Chabriers politisch wie sexuell unkorrektes Meisterwerk in ihrer legendären TV-Show präsentieren können. Von einer historischen Aufführungspraxis, wie sie der Musikwissenschaftler Kevin Clarke schon lange für die Operette einfordert, ist dieser interpretatorisch vertändelte Abend Lichtjahre entfernt. Theater wie die Bouffes-Parisiens waren einst deshalb so beliebt, weil die im Korsett bürgerlicher Moralvorstellungen gefangenen Zuschauer hier Dampf ablassen, sich ihren schmutzigsten Fantasien hingeben durften.

Wie bei jeder guten Operette lässt sich die Handlung in einem Satz zusammenfassen – der Straßenhändler Lazuli spannt König Ouf I. die Braut aus und wird vom gehörnten Monarchen am Ende sogar zum Thronfolger ernannt – und doch ist die Story letztlich unerheblich, da sie nur als Gerüst für eine Abfolge von aberwitzigen oder anzüglichen Sketchen dient. In denen geht es bei Chabrier zwar auch um depperte Könige, ahnungslose Astrologen, unfähige Diplomaten oder die heilsame Wirkung der „grünen Chartreuse“, des Schnapses aus der zentralfranzösischen Heimat des Komponisten. Im Zentrum aber steht die Fleischeslust, die in all ihren verbotenen Spielarten durchdekliniert wird: Da wollen zwei adlige Ladies einen schlafenden Proletarier „wachkitzeln“ (was besonders pikant ist, da es sich hier ja um die verkleidete Mezzosopranistin handelt). Da lässt sich das erste Finale problemlos als sadistische Analsex-Szene lesen, da beginnt der zweite Akt mit dem Auftritt liebestoller Choristinnen, gefolgt von Couplets, die das Vergnügen eines Seitensprungs verherrlichen. Im Quartett stöhnen zwei Paare beim Kussduell um die Wette, Aloès rät der Prinzessin zur Ex-und-hopp-Taktik der Vielliebhaberei, und Ouf will im Angesicht des Todes noch schnell ein Kind zeugen. Der widerstrebenden Laoula erklärt er, sie könne sich als Witwe ja sofort den nächsten Kerl an Land ziehen. Bube, Dame, König: krass.

In der Produktion der Staatsoper ist nichts davon zu sehen. Immerhin kann man sich hier hemmungslos an der spritzigen Musik erfreuen. Oder man nutzt den Abend für ein Doktorspielchen mit seinen eigenen Gedanken: Macht euch doch schon mal frei.

Nur noch am 19., 23., 27. und 30. Mai.

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