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© Bartek

Staatsoper: Tugend der Not

Staatsoper im Ausweichquartier? Macht nichts. Breslau zeigt, wie man kreativ improvisiert.

Am heutigen Montag rücken im Berliner Schillertheater die Bauarbeiter an: Für 20 Millionen Euro wird die Charlottenburger Bühne zum Ausweichquartier für die Staatsoper umgebaut: Drei Jahre lang wird das Ensemble ohne Stammhaus auskommen müssen, wenn ab Herbst 2010 Unter den Linden denkmalgerecht saniert wird. Was dem Opernhaus derzeit allerdings fehlt, ist ein Intendant, der mit Ideen und Witz die Jahre extra muros gestaltet. Wie gewinnt man eine fähige, charismatische und möglichst auch noch prominente Führungspersönlichkeit für ein Opernhaus, das keine dauerhafte Spielstätte besitzt? Nur wenig Repräsentationspotenzial birgt ein solcher Posten, aber viele administrative Unwägbarkeiten und Ärgernisse.

Da grenzte es schon an ein Wunder, fände man einen Intendanten, der das jahrelange Sitzen auf Koffern und Kulissen auch noch als künstlerische Herausforderung begreifen würde. Und doch, Beispiele gibt es, freilich nicht gerade hierzulande. Etwa 350 Kilometer südöstlich von Berlin im polnischen Wroclaw, dem einstigen Breslau. Im Jahr 1994 wurde dort die Stelle eines Operndirektors ausgeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war die 1839–48 von Karl Ferdinand Langhans erbaute Oper sogar noch ein bisschen baufälliger als die Berliner Staatsoper. Dass das Haus in absehbarer Zeit aus Sicherheitsgründen geschlossen werden würde, verschwieg die städtische Kulturadministration den Bewerbern lieber.

Zu den Kandidaten gehörte die Dirigentin Ewa Michnik. Was sie in das verlangte Konzeptpapier schrieb, war ihre ureigene Vision für die Oper in ihrer Stadt: Die solle gelegentlich aus ihrem Stammhaus ausziehen und „die schönsten historischen Orte von Wroclaw“ mit Musiktheater beleben. Als Beispiel schlug sie „Tosca“ vor: Den ersten Akt mit seiner Kirchenschiff-Szenerie könne man im Maria-Magdalena-Dom spielen lassen, den zweiten im barocken Leopoldina-Hörsaal der alten preußischen Universität, und um Mitternacht könnte Cavaradossi auf der Partisanenbrücke sein „E lucevan le stelle“ schmettern. Und das Publikum solle einfach von Station zu Station mitwandern.

Schneller als Ewa Michnik diesen Plan erläutern konnte, erhielt sie einen Vertrag. „Tosca“ wurde ein voller Erfolg. Die städtische Kulturverwaltung wusste nun, dass das Opernleben in Breslau mit dieser umtriebigen Dirigentin nicht zum Erliegen kommen würde – auch ohne feste Spielstätte. Das marode Theater wurde dichtgemacht, bis zur Wiedereröffnung vergingen mehr als zehn Jahre. Für eine Oper ohne Haus aber gab es auch weniger Subventionen von der Stadt. Ewa Michnik trat die Flucht nach vorne an. Vor allem brauchte sie Sponsoren und ein neues, zahlreiches Publikum. So fand Oper in Breslau in den folgenden Jahren in Kirchen, Museen, Universitätssälen, dem zentralen Kaufhaus Dominikanska sowie der Jahrhunderthalle von 1913 statt. Die Produktionen wurden immer aufwendiger, auch avancierter. Die Sponsoren schreckte das nicht, im Gegenteil. Unternehmen aus Seoul und Hongkong übernehmen regelmäßig die hohen Gagen eines koreanischen Gasttenors.

2003 erlebte die heimatlose Breslauer Oper den künstlerischen und logistischen Höhepunkt dieser heiklen Ära. In einer Aufführungsserie von Ponchiellis „La Gioconda“ wurde auf der Oder eine schwimmende Insel errichtet, die 300 Mitwirkende sowie einen Teil des Publikums tragen sollte. Ins Flussbett wurden Betonsäulen eingelassen, ein riskantes und teures Unterfangen. Geldgeber war ein großer polnischer Kupferproduzent, doch auch die Stadt musste um Genehmigung ersucht werden. Als das Verbot der Inszenierung schließlich verkündet wurde, war sie bereits über die Bühne gegangen.

Als Ewa Michnik diese Geschichte erzählt, wirkt sie hellwach, dabei hat sie erst in der Nacht zuvor bis drei Uhr morgens die Breslauer Open-Air-Premiere von Verdis „Otello“ dirigiert, diesmal auf einer echten Oder-Insel. Natürlich seien die zehn Jahre ohne Haus eine ungeheuer schwierige Zeit für das Ensemble gewesen, sagt sie. Aber man solle bitte nicht glauben, sie könne nun die vielen logistischen, technischen und finanziellen Probleme im neuen Haus für alle Zeit ausblenden. Hier falle eine Hebebühne aus, dort ein Computer.

Eine künstlerische Generaldirektorin, auch wenn sie den Großteil der zahlreichen Produktionen ihres Hauses selber dirigiert, ist in Polen, anders als in Deutschland, immer auch ihre eigene Verwaltungschefin. Und wenn Ewa Michnik von diesen täglichen Aufgaben berichtet, klingt es anders als das Lamento einer genervten Künstlerin, die man ungebührlich mit der Erdenschwere eines Verwaltungsapparats belastet. Und es klingt stolz – vor allem, wenn sie über ihr Publikum berichtet. Denn sie gewinnt ein neues hinzu. „Die jungen Leute kommen zuerst zu den Open-Air-Veranstaltungen, dann kommen sie ins Opernhaus.“ Das erstrahlt seit September 2005 wieder in altem Glanz. Ewa Michnik hat die Schließung ihres Hauses als Chance für die Zukunft begriffen. Am Ende ist ihre Vision einer jungen, lebendigen Oper in Breslau vollends aufgegangen.

Infos unter: www.opera.wroclaw.pl

Matthias Nöther

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