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Warten auf Kundschaft. Vor drei Jahren machte sich Carlo mit seinem eigenen Lokal selbstständig.

©  Mike Wolff

Stadtspaziergang: Lob der Selbstausbeutung

Am Charlottenburger Karl-August-Platz trotzt ein Wirt dem Trend zum Chic. Hymne aufs Stammcafé. Vor drei Jahren hat er das Café "The Olive" übernommen und verfolgt von hier aus die Veränderungen seines Quartiers.

Jeden Samstag ist Markttag in Charlottenburg. Der Markt auf dem Karl-August-Platz, der rund um die Trinitatis-Kirche aufgebaut wird, gilt als drittschönster in ganz Berlin. Weiß jedenfalls eine Liste, die ab und zu von den Stadtmagazinen brav nachgedruckt wird. Von der aber niemand mehr so genau weiß, wer sie in Auftrag gegeben hat. Das Bezirksamt Charlottenburg vielleicht? Vergeblich sucht man zumindest rund um die Kirche nach brutzelnden Chinapfannen und abgestandenem Filterkaffee. Stattdessen gibt es sie hier noch, die Traditionskartoffel „Linda“, die schon den Großvätern unserer Großväter zum Sushi gereicht wurde. Sie wollen handgeschöpfte Schokolade mit frischen Berberitzen? Antilopenschnitzel aus Namibia oder koscheres Katzenfutter? Vegane Tortelacci von einem Brandenburger Teigwarenkollektiv? Auf diesem Markt kein Problem!

Inmitten dieser kulinarischen Wunder bleibt die Atmosphäre stets betont entspannt und familiär. Jeden Markttag kommt eine alte Dame mit ihrem schneeweißen Königspudel vorbei, und es scheint so, als ob beide denselben Friseur konsultieren. An einem Bäckereistand lehnt ein aus zwei alten Fahrrädern zusammengelötetes Tandem, auf dem stets ein lustiges altes Ehepaar mit Patchwork-Taschen zum Einkauf vorfährt. Aber auch viel beschäftigte Vielflieger, deren Kinder Hans und Franzi oder so ähnlich heißen, suchen hier mit handgeflochtenen Weidenkörben am Arm nach dem einfachen Leben. Wer eine Stunde im Gewimmel bleibt, fühlt sich wie in einer guten, alten Zeit, nur ohne grausam geköpfte Hühner oder verlumpte Menschen ohne Rentenversicherung. Alles ist so gemütlich wahr und authentisch, dass man gleichzeitig einen Ökostrom-Vertrag unterschreiben und mit Heinrich Zille einen Korn kippen möchte. Nur eins sollte man nicht tun: Mitten in diesem Idyll eine Zigarette anzünden. Dann kommt der Verkehr auf der Krummen Straße, die den Markt entlangführt, spontan zum Stehen, weil etliche Fahrer nagelneuer SUVs den Sünder aufklären wollen, was er gerade der Umwelt antut. Und den vierjährigen Lungen von Albert und Eva, die hinten in ihren Kindersitzen dösen.

Gegen fünfzehn Uhr geht dieses Spektakel vorbei. Die Markthändler bauen ab, und auch die Betreiber umliegender Cafés können zum ersten Mal durchatmen. Im „Café Olive“, das nur zwanzig Meter vom Markt entfernt seine Gäste empfängt, hat Carlo, der Wirt, einen Platz für sich und seinen selbst kreierten Ingwer-Minz-Tee mit Datteln direkt am Eingang gefunden. Carlo ist heute schon seit acht Uhr da. Eigentlich ist Carlo immer da. Wann hatte er das letzte Mal tagsüber frei, fragt der besorgte Stammgast? „Im Dezember bin ich zweieinhalb Tage zu Hause geblieben“, antwortet der muskulöse Mann. „Nach einer Zahn-OP konnte ich nicht gleich wieder hinter den Tresen.“ Also vor sechs Wochen. Und davor? Diesmal muss Carlo intensiv aus dem Fenster schauen und mit dem Löffel einige Dattelstücke in seinem Teeglas jagen. „Ostersonntag 2011“, erinnert er sich schließlich.

Viel gearbeitet hat der braunhaarige Carlo mit den wachen Augen schon immer. 1970 wurde er geboren, mit 16 begann er eine Ausbildung zum Restaurant-Fachmann. Das kommende Jahrzehnt führte ihn um die Welt. In der Schweiz arbeitete er und als Barmann auf Kreuzfahrtschiffen in der Karibik. Während seine Kollegen sich in ihre Kajüten zurückzogen, so oft es ging, machte Carlo jeden Landgang mit. „Du kannst doch nicht bei den Bermudas ankern und dann die Zeit verschlafen!“, tippt er sich noch heute gegen die Stirn.

Vor einigen Jahren kehrte er nach Berlin zurück. Aus privaten Gründen, über die er nicht gern redet. Um an Land bleiben zu können, suchte er nach einem Ort, an dem er sich selbstständig machen konnte. Und fand die Olive. Schon bei seinem zweiten Besuch, der im Sommer 2010 stattfand, stellte er fest, dass der Vorbesitzer gern verkaufen wollte. Carlo hingegen erkannte das Potenzial dieses kleinen Ladenlokals. Zwar standen nur wenige Tische darin, und wenn man auf die Toilette wollte, musste man sich bei mindestens drei anderen Gästen entschuldigen, die man unterwegs gerammt hatte, aber: „Ich wollte schon immer in diese Ecke hier“. Die beiden Männer wurden schnell handelseinig. Um die Kosten in der ersten Zeit möglichst niedrig zu halten, übernahm Carlo nicht nur den Tresenservice, sondern kaufte auch selbst ein. Und stellte nur für wenige Stunden am Tag eine Köchin ein. Weil er selbst kochen konnte. Und weil er wusste, dass die Leute in ihren SUVs da draußen zwar gern Geld für handgepresstes Kernöl geben, aber andererseits auch große Freunde des Mittagsgerichts für sechs Euro sind. Also stand Carlo zwölf bis fünfzehn Stunden in seinem eigenen Restaurant. Sieben Tage pro Woche. Sollte ja nicht für immer sein.

Genau aus diesem Grund hatte übrigens der Vorbesitzer seinen Laden an Carlo verkauft. Der Mann heißt Salar. Ein Kurde aus einem kleinen Dorf an der türkischen Ostgrenze. Er kam fast so viel herum wie Carlo. Seine Frau lernte Salar in London kennen, und seine Doktorarbeit wollte er in Berlin machen. Dann jedoch bekam seine Frau Tessa schweres Asthma, und um seine Familie durchzubringen, zu der mittlerweile auch zwei Töchter gehörten, legte Salar seine Arbeit auf Eis und kaufte die Olive. Ab sofort stand er zwölf bis fünfzehn Stunden hinter dem Tresen seines eigenen Restaurants. Sieben Tage pro Woche. Bis er die Olive überstürzt an Carlo verkaufte, und wenige Tage später nach London zog. Es waren wohl private Gründe im Spiel, über die Salar selbst mit seinen Stammgästen nicht gern redete.

Wenn man Carlo darauf hinweist, dass er sich für die Olive genauso selbst ausbeutet wie Salar, lacht er laut und trocken. „Ich könnte für niemanden anderen so viel arbeiten“, gibt er dann zu. „Dann wäre ich genauso ein Knecht, wie ich es im Hotel war.“ Carlo nimmt einen letzten Schluck aus seinem Glas. Zwei Paare kommen gerade in die Olive. „Ich habe heute selbst gemachte Toskana-Pasta“, ruft er ihnen gut gelaunt zum Gruß entgegen. Das Abendgeschäft hat begonnen. Bis kurz nach Mitternacht wird es dauern.

In diesem Frühjahr erscheint im Verbrecher-Verlag eine Sammlung von Berlin-Kolumnen von Knud Kohr: „Helden wir ihr“.

Knud Kohr

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