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„Stallerhof“ am Deutschen Theater: Angst in der Hose

Ein früher Kroetz für Berlin-Mitte: „Stallerhof“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters.

Höflichkeitsschnörkel und Gefühlsornamentik sind die Sache der bayrischen Bäuerin nicht. „Machst uns keine Freud“, herrscht sie ihre Tochter Beppi an, die herzerweichend unschuldig durch ihre dicken Brillengläser schaut. Beppi ist geistig zurückgeblieben. Während ihre Eltern darauf mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Aggression regieren, bemüht sich der kurz vorm Rentenalter stehende Knecht Sepp um eine ernsthafte Kommunikation mit dem Mädchen.

Bei der Lektüre von Franz Xaver Kroetz’ 1972 in Hamburg uraufgeführtem Stück „Stallerhof“, in dem die damals 18-jährige Eva Mattes als Beppi reüssierte, kann einem schon bis heute der Atem stocken: wie Sepp Beppi auf dem Rummel nach einer gemeinsamen Geisterbahnfahrt, bei der sie sich vor Angst in die Hosen gemacht hat, mit seinem Taschentuch den Hintern abputzt und sie aus dieser Situation heraus entjungfert. Wie sich daraus eine gespenstisch zwischen Zärtlichkeit und Missbrauch changierende Liebesgeschichte entwickelt. Wie Beppi schwanger wird und ihre Mutter im letzten Moment davor zurückschreckt, ihr die Abtreibungslauge aufzuzwingen: Das sind knallharte, in sachdienlichem Kunstbayrisch verfasste Nahaufnahmen von Menschen in strukturellen Zwängen und Beengungen.

Wie aber kriegt man diesen „Stallerhof“ heute überzeugend auf eine Berlin- Mitte-Bühne? Versucht man es tendenziell realistisch, ist erhöhte Milieufolklore-Gefahr im Verzug. Also entscheidet sich der Regisseur Frank Abt für einen abstrakten Modellversuch: Zu Beginn steht nur der Schauspieler Thorsten Hierse in dem leeren weißen Kasten, den Anne Ehrlich in die DT-Kammerbühne gebaut hat, und bestreitet die ersten Textzeilen – von der Regieanweisung bis zum Dialog – im Alleingang. Nach und nach kommen die Kollegen hinzu: Isabel Schosnig als präzis-herbe Stallerin, Matthias Neukirch als Staller, dessen dumpfe Hilflosigkeit gern mal einen Dreh ins Komödiantische bekommt, Markwart Müller-Elmau als empathischer Sepp und Mereika Schulz als eindringliche Beppi. Sie alle borgen sich zusehends intensiver in ihre Rollen hinein, während Hierse als Erzähler permanent anwesend bleibt und ihnen hier und da weiterhin ein wenig Textmaterial abnimmt: Bloß kein bayrisch-dörfliches Siebziger-Jahre-Abziehbild, tönt es hier quasi aus jedem Bühnenbrett.

Selbst die Lodenjacken, Trachtenschürzen und Bäuerinnenkopftücher, mit denen die Kostümbildnerin Marie Roth das „Stallerhof“-Personal ausgestattet hat, zitieren das besagte Milieu nur noch vage. An einem einzigen Punkt allerdings wird Abt plötzlich hyperkonkret: Er lässt die geistig zurückgebliebene Beppi von einer behinderten Darstellerin spielen. Mereika Schulz steht normalerweise beim Berliner Theater Thikwa auf der Bühne. Es sei ihm „wichtig gewesen“, erklärt der Regisseur im Programmheft, sich der Tatsache, „dass es Menschen gibt, die anders funktionieren, als wir es gewohnt sind, in der Arbeit ganz direkt zu stellen“ – und auch die Zuschauer dieser Situation unmittelbar auszusetzen.

Nun wissen wir ja allerspätestens seit René Pollesch, dass die Sache mit der Repräsentation insbesondere von „Andersheit“ ein komplexes Feld ist: Bei theorieaffinen Zuschauern dürften sich sofort relativ schwer entwirrbare Gedankenketten um die Begrifflichkeiten „Andersheit“, Repräsentation, Authentizität in Gang setzen – und um ihre ebenfalls nicht ganz einfachen Zusammenhänge. Und rein praktisch betrachtet begegnet man in Mereika Schulz einer interessanten Akteurin, die durch den an sämtliche Schauspieleradressen Stichworte verteilenden Erzähler Hierse im Grunde perfekt ins Ensemble eingebettet ist. Christine Wahl

Wieder am 27.2. und am 2.3.

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