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Kultur: Stammzell-Entscheidung: Bausteine des Lebens

Stammzellforscher sind Zeitreisende. Die Uhr des Lebens zurückdrehen zu können - das ist einer der Träume, der sie antreibt.

Stammzellforscher sind Zeitreisende. Die Uhr des Lebens zurückdrehen zu können - das ist einer der Träume, der sie antreibt. Vermessene Forscherfantasien? Hirngespinste? Danach sah es lange aus. Dann, 1996, kam Dolly zur Welt, der Klon im Schafspelz. Nicht die Tatsache, dass er ein Tier "kopiert" hatte, war für Schöpfer Ian Wilmut und die Fachwelt das Aufregende. Nein, Wilmut hatte gezeigt, dass es tatsächlich möglich ist, die Uhr einer erwachsenen Zelle zurückzudrehen. Aus der Euterzelle eines sechs Jahre alten Schafs schuf der Schotte einen Embryo und schließlich ein Lamm. Aus alt wurde jung - das war die eigentliche Sensation. Denn normalerweise kann bekanntlich nur aus der Verschmelzung von ganz besonderen Zellen, Spermium und Eizelle, ein neues Säugetier enstehen - und nicht aus einer x-beliebigen Zelle eines einzelnen Körpers. Die Ursache dafür liegt in dem, was Forscher "Epigenetik" nennen - "eines der aufregendsten Forschungsgebiete der Zukunft", schwärmt Otmar Wiestler in einem Gespräch mit dem Tagesspiegel. Wiestler ist Chef des Instituts für Neuropathologie an der Uni-Klinik Bonn und Kollege von Oliver Brüstle, der menschliche embryonale Stammzellen aus Israel nach Deutschland importieren möchte.

Für ein einziges gesundes geklontes Lamm brauchte Dolly-Schöpfer Wilmut allerdings 277 Anläufe. Die meisten Klone starben in seinen und anderen Versuchen frühzeitig ab. Manche Klone sind fast zweimal so groß wie normale Tiere. Oder sie kommen mit Herzfehlern oder gestörtem Immunsystem zur Welt. Warum? Die Antwort führt in die Epigenetik. Im Laufe des Lebens spezialisieren sich die Zellen auf verschiedene Aufgaben, sie vermehren sich und werden Nervenzellen oder Hautzellen. Da jede unserer Zellen über die gleichen Gene verfügt, eine Nervenzelle aber andere Gene aktivieren muss als eine Hautzelle, werden, je nach Zelle, bestimmte Gene gezielt an- und abgeschaltet - die Gene bleiben die gleichen, aber sie werden chemisch blockiert oder aktiviert: ihre Epigenetik verändert sich.

Was hat das mit den beiden Stammzelltypen zu tun, von denen immer wieder die Rede ist - den embryonalen und "adulten" Stammzellen? Die Antwort ist: Sie unterscheiden sich in ihrer Epigenetik.

Wunderkinder der Medizin

Die embryonalen Stammzellen, die man mit einem Pipettenstich aus dem Innern eines wenige Tage alten Embryos gewinnen kann, sind "pluripotent": aus ihnen kann noch jeder beliebige Zelltyp entstehen, eine Haut-, Hirn- oder Muskelzelle. Das macht sie zu Wunderkindern der Transplantationsmedizin. Denn Hirn-, Herzmuskel- oder Insulinzellen wachsen nicht oder kaum nach. Deshalb hofft man, embryonale Stammzellen für die Behandlung von Parkinson, Herzinfarkten oder Diabetes einsetzen zu können.

Brüstle konnte im Tierversuch bereits zeigen, dass Stammzellen geschädigte Nervenzellen reparieren können. Bei der Multiplen Sklerose werden die Isolierhüllen der Nervenzellen vom eigenen Immunsystem angegriffen und zerstört - die Nerven liegen buchstäblich blank. Brüstle transplantierte embryonale Stammzellen der Maus in das Rückenmark und Hirn von Ratten, die an einer Art Multipler Sklerose litten. Das Resultat: Zwei, drei Wochen nach der Behandlung hatten die Nervenzellen neue Isolierhüllen.

Die embryonalen Stammzellen sind pluripotent, weil die Uhr dieser Zellen bereits "auf Null" steht - sie muss erst gar nicht epigenetisch zurückgedreht werden. Der Nachteil: Nach dem Pipettenstich ist der Embryo nicht mehr entwicklungsfähig, er muss vernichtet werden. Dieses ethische Problem stellt sich nicht bei den anderen, den "adulten" Stammzellen. Stammzellen befinden sich nämlich nicht nur im Embryo, sondern auch in vielen Geweben des erwachsenen Körpers, beispielsweise der Haut. Lange galten die adulten Stammzellen als "gewebespezifisch": Aus einer Hautstammzelle, dachte man, kann nur eine Hautzelle werden. Schlechte Aussichten also für bestimmte Organe! Denn das Herz oder Hirn verfügen kaum über eigene Stammzellen. Um hier Schäden zu reparieren, bräuchte man also embryonale Stammzellen.

Uhr steht nicht auf Null

Mehr und mehr zeigt sich aber, dass auch adulte Stammzellen die verblüffende Fähigkeit haben, sich in verschiedene Zelltypen zu entwickeln - eine Hautstammzelle beispielsweise in eine Hirnzelle. "Wie ausgeprägt diese Fähigkeit jedoch wirklich ist, wissen wir noch nicht", sagt Brüstle, der beide Stammzelltypen erforscht.

Der Vorteil der adulten Stammzellen ist, dass man für ihre Gewinnung keine Embryonen braucht. Sie können dem Patienten selbst entnommen werden - damit bestünde bei einer Transplantation keine Abstoßungsgefahr. Der Nachteil: Die adulten Stammzellen sind selten. Im Knochenmark etwa ist weniger als eine von 10 000 Zellen eine Stammzelle. Außerdem ist eben noch unbekannt, inwiefern die adulten Stammzellen sich tatsächlich in andere Zelltypen verwandeln lassen - ihre Uhr steht nämlich nicht auf Null, bestimmte epigenetische Veränderungen müssen rückgangig gemacht werden.

Wenn man nun verstehen würde, wie diese epigenetischen Veränderungen funktionieren, dann könnte man diese Veränderungen vielleicht auch gezielt rückgängig machen. Dann wäre es möglich, nicht nur aus den adulten Stammzellen "Alleskönner" zu machen. Sondern: Von jeder x-beliebigen Zelle unseres Körpers ließe sich die Uhr zurückdrehen, um sie direkt in eine alleskönnende Stammzelle zu "reprogrammieren" - ohne Embryonenverbrauch und ohne Abstoßungsgefahr. Bis zu dieser ultimativen Zeitreise ist es allerdings - wenn sie denn je gelingt - noch ein langer Weg.

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