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Kultur: Stanislaw Lem: Zur Wahrheit durch die Poesie

"An Wunder glaube ich nicht", sagt Stanislaw Lem. Aber an die Magie der Worte.

"An Wunder glaube ich nicht", sagt Stanislaw Lem. Aber an die Magie der Worte. Die prognostischen Kraft seiner Literatur ist verblüffend, fast all seine Prophezeiungen sind eingetroffen. Gentechnik, Internet, Cyberspace oder was sonst die Verheißungen moderner Informationstechnologie sein mögen, hat der schmächtige Pole schon vor mehr als drei Jahrzehnten vorausgesagt.

Der Visionär aus Krakau irrte jedoch in einem entscheidenden Punkt. Er unterschätzte den Faktor Zeit. Einst, als er seine These vom Übergang der Biosphäre in die Technosphäre formulierte, war er fest davon überzeugt, dass er persönlich die praktischen Konsequenzen nicht mehr erleben würde. Indessen, die Beschleunigung technischen Fortschritts verläuft als Exponentialkurve, mit der Tendenz unendlich steigend. Jetzt schon? Das ist die uralte Rätselfrage der Menschheit angesichts schnell verrinnender Lebenszeit. 47 Bücher - erschienen in einer Weltauflage von mehr als 10 Millionen - verfasste der große Erfinder binnen 40 Jahren. Eine gering erscheinende Spanne - und doch von endloser Dauer gegenüber der Geschwindigkeit, mit der sich die Kommunikationstechnologie global ausbreitet. Den Schrecken und das Versprechen der nachindustriellen Epoche haben Lems Erzählungen, Romane, Satiren, Märchen und theoretische Schriften im Keimstadium vorweggenommen. Sein Werk ist ein gigantisches, von abgründigen Einfällen, verspieltem Wortwitz und Reflexionen überquellendes Panoptikum dessen, was ist, was sein könnte und was sein wird. Ein Welttheater menschlicher Stärken und Schwächen.

Der 1921 in Lemberg geborene Schriftsteller studierte Medizin und kam als Autodidakt zum Schreiben. Als Grenzgänger zwischen Empirie und Poesie hat das Multitalent die literarische Gattung Science-Fiction neu vermessen. Generationen von Lesern in Ost und West folgten seinen kosmischen und komischen Abenteurern Kelvin, Pilot Pirx und Ijon Tichy auf intergalaktischen Reisen. Mit "Solaris" und "Eden" hat der Entdecker zuvor gänzlich unbekannte Territorien auf der Landkarte kollektiver Erinnerung eingezeichnet. Zuletzt aber ist die Technologie zum Roman seines eigenen Lebens geworden. Er gipfelt in dem fantastischen Plot, dass der Erzähler Lem voll Staunen feststellt, wie aus seinen Träumen harte Tatsachen wurden, die im unerbittlichen Takt des Fortschritts sein eigenes und unser aller Dasein bestimmen. Er ist gefragt wie nie zuvor. In der Ulica Narwik Nummer 66 reichen sich die Besucher die Klinke in die Hand. Mister Lem, wie haben Sie das gemacht? "Ganz einfach," lautet die Antwort, "ich habe drauflos geschrieben". Rückwirkend betrachtet hält er die völlige Isolation, die er während des Kommunismus als Pole unter sowjetischer Besatzung erlebte, für ein Glück. Damals wie heute am Stadtrand von Krakau fast auf dem Lande lebend, "war ich einsam, wie ein Robinson der Futurologie, der die Welt neu erschuf, in dem er die Dinge in ihr benennt." Die hohe Trefferquote seiner Prognosen erfüllt ihn nicht mit Triumph, eher ist sie eine Erfolgsstory wider Willen, geprägt vom Skeptizismus angesichts allgemeiner Hightecheuphorie. Denn was gewöhnlich Fortschritt der Technik genannt wird, hält er für eine Geschichte verpasster Chancen:"Der Homo sapiens ist leider der rücksichtsloseste Parasit der Biosphäre." Fragte Lem in den sechziger Jahren in "Summa technologiae" noch voll Optimismus: "Was können wir aus der Welt machen, wenn wir bei der Natur in die Lehre gehen?", so meint er heute voller Ingrimm: "Wenn es eine Hölle gibt, muss diese vollcomputerisiert sein." Aus dem Positivisten von einst ist geradezu ein Technikverweigerer geworden, der es strikt ablehnt das Internet zu benutzen. Auch wenn er diesmal zurück in die Zukunft schaut: Noch als 80-Jähriger ist Stanislaw Lem seiner Zeit um Lichtjahre voraus.

Ina Weisse

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