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Das Prinzip der Überwältigung. Mark Bradfords „Go tell it on the Mountain“ in der Biennale-Schau „Viva Arte Viva“.

© AFP

Starker Auftakt der Biennale von Venedig: Fülle und Falle

Es lebe die Kunst: Ein erster Rundgang über die Biennale von Venedig – und ein Blick in den deutschen Pavillon. Er könnte zum Favoriten für den Löwen werden.

Ein Mann liegt schlafend auf seinem Bett, eine Reihe von Schwarz-Weiß-Fotografien zeigt ihn mal nach rechts, mal nach links gedreht. Mladen Stilinovic träumt vor sich hin, 1978 ließ er sich dabei fotografieren. Dem serbischen Künstler wird als Auftakt der Biennale im Kuppelsaal des Giardini-Hauptpavillons mit der Serie „Artist at Work“ in besonderer Weise gedacht, er starb im vergangenen Jahr. Zugleich ist es der Versuch, die auf die Biennale di Venezia strömenden Menschen innehalten zu lassen, bevor sie ihren Marathon durch die Säle, in die Länderpavillons beginnen, ihre Handys zücken, sich Notizen machen, möglichst alles zu sehen versuchen. Eine schier nicht zu bewältigende Aufgabe bei mittlerweile 81 repräsentierten Ländern und 120 Künstlern in der Hauptausstellung, die in diesem Jahr von Christine Macel vom Centre Pompidou eingerichtet wird.

Die Künstlerin kampiert in ihrer Kunst

Schon beginnt die Betriebsamkeit, Sound setzt ein. Gleich hinter der Stellwand mit den Aufnahmen von Mladen Stilinovic hat die US-Künstlerin Dawn Kasper ihr Atelier platziert, dazu ihre ganze Wohnungseinrichtung mitgebracht und das Equipment ihrer Band, mit der sie Musik macht. Sie wird mitten in der Ausstellung drei Monate lang kampieren. Macel hat hier die Gegensatzpaare ihrer Biennale-Schau zusammengebracht: Müßiggang und Geschäftigkeit als Quell kreativen Schaffens. Der Ausgleich ist für gewissenhafte Kunstfreunde nicht zu schaffen, schon gar nicht in diesem Jahr mit so vielen Großereignissen, der Biennale in Venedig, der Documenta in Athen und Kassel und den Skulpturenprojekten in Münster, von den Biennalen in Istanbul und Lyon im Herbst zu schweigen.

Den Auftakt für das Super-Kunstjahr hat sich die Documenta bereits geschnappt, indem sie sich verzweifachte und die Premiere ihres ersten Teils in Athen in den April vorverlegte. Die 57. Biennale di Venezia, die sich in dieser Woche mit Preview-Tagen ihrer offizielle Eröffnung am Samstag nähert, bekümmert das kaum. Sie ist doppelt so alt wie die Documenta und fühlt sich weiterhin alle zwei Jahre als das wahre Herz der Kunstwelt, wie ihr Präsident Paolo Baratta nicht müde wird zu betonen, mag die Documenta auch im Fünfjahresrhythmus dazwischenkommen und wie 2017 auf den gleichen Sommer fallen. Das Modell der Länderpavillons hat sich allen Globalisierungstendenzen zum Trotz bewährt, jede Nation versucht hier zu punkten. Hinzu kommt die zentrale Ausstellung als Rückgrat der Biennale im großen Pavillon in den Giardini sowie im Arsenale.

Konkurrenten und Trittbrettfahrer

So liegt der Vergleich auf der Hand, schließlich ringen in diesem Jahr zwei Weltausstellungen um die Gunst des Publikums. Venedig ist außerdem Konkurrenz auf der ganzen Welt zugewachsen, auch in der eigenen Stadt mit den boomenden „Eventi Collaterali“, den offiziell in den Veranstaltungskalender aufgenommenen Parallelausstellungen und den vielen Trittbrettfahrern. Während in Athen und ab Juni in Kassel der polnische Zuchtmeister und gestrenge Documenta-Direktor Adam Szymczyk den Besuchern die Parole „Von Athen lernen“ verordnet hat, gibt die Französin Christine Macel die leidenschaftliche Devise „Viva Arte Viva“ aus. Sie will vor allem die Freude an der Kunst feiern, keine politische Aussage treffen. Damit setzt sie sich gezielt auch von ihrem Vorgänger Okwui Enwezor ab, der mit seiner dezidiert engagierten Schau keine glückliche Hand bewies.

„Viva Arte Viva“, das klingt beseelt von der Kraft der Kunst. Christine Macel preist sie als das letzte Residuum der Freiheit. Dahinter steckt auch Gegenwehr gegen einen Kunstmarktes, der sich gnadenlos in den Vordergrund drängt, gerade in Venedig. Der Sammler François Pinault buhlt in seinen Privatmuseen Palazzo Grassi und Punta della Dogana mit dem grotesk gigantomanischen Künstler Damien Hirst um Aufmerksamkeit. Macel versucht sich von den Wettläufen fernzuhalten. 103 ihrer Künstler sind zum ersten Mal in Venedig dabei, viele neue Namen hat sie mitgebracht, viele Wiederentdeckungen.

Seitenhieb auf die Selbstdarstellung

Ihre Ausstellung ist in neun Kapitel eingeteilt, keck ebenfalls Pavillons genannt, als kleiner Seitenhieb auf die nationalen Selbstdarstellungen rundum in den Giardini, denn bei ihr spielen Ländergrenzen, Kulturbarrieren gerade keine Rolle. Das signalisiert auch der Auftakt im Arsenale, dem zweiten Ausstellungsteil. Dort hat der chilenische Künstler Juan Downey einen „Circle of Fires“ aus Fernsehgeräten gebildet, auf denen Yanonami zu sehen sind, die er sich selbst filmen ließ. Vertretern einer anderen indigenen Gruppe des Amazonas, den Huni Kuin, wird der Besucher später in dem aus bunten Seilen gebildeten Zelt des Brasilianers Ernesto Neto begegnen, wo die Indianer zum Verweilen einladen und Musik machen.

Solche Bezüge lassen sich kreuz und quer finden, der Besucher muss sich seine eigenen Schneisen durch die Fülle schlagen, denn die Kapitel überlagern sich. Ihre Schlagworte, die Pavillon-Titel, Unendlichkeit, Farbe, Schamanismus, Traditionen, das Dionysische, lassen sich letztlich überall entdecken. Christine Macel gerät dadurch in eine Falle, in die auch alle ihre Vorgänger tappten. Sie überfordert sich und den Besucher durch die Kakofonie, den unüberschaubaren Pool an Positionen.

Das Privileg der Fokussierung besitzen dafür die Länderpavillons, wenn sie es zu nutzen wissen. Der deutsche Pavillon hat daraus eine Mission gemacht. Mit Anne Imhof und ihrer täglich mehrstündigen Performance „Faust“ ist ein Wurf gelungen, der den Atem raubt. Der monumentale Raum ist rigoros entleert, nur ein gläserner Zwischenboden wurde eingezogen, auf und unter dem sich die jungen Akteure in Streetwear in Zeitlupe bewegen, mit der Faust an die Brust schlagen, miteinander ringen, Feuerspuren legen, den Kopf manisch hoch- und runterwerfen, melancholische Lieder singen. Das Publikum steht gebannt dazwischen, betrachtet das Gebaren einer wie verloren erscheinenden Generation, die in Anne Imhofs Übersetzung jedoch einen ungeheuer starken Ausdruck für die Darstellung innerer wie gesellschaftlicher Konflikte gefunden hat. Das Pathos, das Melancholische, die greifbare Frage nach dem Sinn hinter allem wirkt sehr deutsch und dürfte seinen Effekt bei der Biennale-Jury gehabt haben, die den Goldenen Löwen zu verleihen hat.

Als die Mitglieder des Komitees am Montag den Pavillon besuchten, war im Team um Kuratorin Susanne Pfeffer die Spannung und Hoffnung auf den Preis greifbar. Wer ihn tatsächlich gewinnt, wird sich erst am Samstag, dem offiziellem Eröffnungstag, erweisen.

Der Pavillon als Gemischtwarenladen

Christine Macel, die beim Pavillontausch zwischen Deutschland und Frankreich auf der vorletzten Biennale mit Anri Sala zu Gast im deutschen Pavillon war, muss hingegen einen Gemischtwarenladen bieten. Tatsächlich gibt es einen im Arsenale zu sehen. Der vor zwei Jahren verstorbene Bildhauer Harif Sharif aus den Vereinigten Arabischen Emiraten pflegte seine abstrakten Werke auf Ladenregalen zu platzieren – als Kommentar zu dem gesteigerten Konsum seines durch Öl zu Reichtum gelangten Landes.

„Viva Arte Viva“, die Parole erschallt in vielen Arbeiten. So animierte die sardische Künstlerin Maria Lai 1981 die Bewohner ihres Heimatdorfes Ulassai in Anlehnung an die örtliche Legende eines Mädchens, das seine Familie auf ähnliche Weise rettete, ein blaues Band von ihren Quartieren bis zum Gipfel des Hausbergs zu knüpfen.

Solche Fäden spinnen sich immer wieder durch die Ausstellung, ob in David Medallas nach fast 30 Jahren wieder eingerichteter Installation „A Stitch in Time“, bei der jeder Besucher nähend seine Spur in einer weit gespannten Stoffbahn hinterlassen darf, oder bei Sheila Hicks bunten Ballen aus aufgerolltem Garn, die am Ende des Arsenale eine bunte Wand aus sattem Rot, Gelb und Orange bilden. Oder es verbinden sich Sounds wie bei Nevin Aladags Musikinstrumenten, die sie im Stadtraum platzierte: Der auf einem Karussell befestigte Bogen streicht eine Geige, eine Ziehharmonika erklingt durch das Wippen eines Schaukelpferds, ein Glöckchenband wird klingelnd am Boden durch eine Fußgängerzone gezogen.

Die Kakofonie als Konzert

Anri Sala wiederum lässt eine Walze Muster auf eine Papiertapete zeichnen und zugleich als Spieluhr Klänge erzeugen. In diesen seltenen Momenten wird die Kakofonie zum Konzert, das Farbgetümmel zur Komposition, der kreuz und quer gesponnene Faden zum Stoff.

Der glückliche Finder und belohnte Besucher darf sich diese Momente als kleine Trophäe mitnehmen, sich an ihnen erfreuen oder sogar davon träumen, wenn er in sein Hotel zurückgekehrt oder erschöpft gleich auf das von Franz West in den Giardini bereitgestellte Sofa gesunken ist. Für einen Künstler wie Mladen Stilinovic begann dann erst die Arbeit, im Schlaf. Sein Credo lautete: Alles hat einen Zweck, nur die Kunst nicht. In Christine Macels Ausstellung „Viva Arte Viva“ darf sie sich der immer dringlicheren Forderung nach Beistand in Zeiten von Flüchtlingsdramen, Trump, Brexit, Rechtsrutsch ausnahmsweise entziehen. Draußen geht es weiter.

Biennale di Venezia, 13. Mai bis 26. November. www.labiennale.org

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