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Kultur: Steinflüsterer

Zum 70. des Bildhauers Ulrich Rückriem

Die Natur mag Ulrich Rückriems Kunst. Bei dem Granitquader aus der Normandie, der neben der Neuen Nationalgalerie steht, wäscht der Regen die Bohrlöcher aus. Der Ostwind bürstet die Poren bis kupferfarbene Adern hervortreten. Die Südsonne bleicht die Front, und das Nordlicht lässt die Rückseite fahl erscheinen. Rückriems Riesen altern schöner. Trotz der oftmals brachialen Eingriffe in den Stein sucht der Bildhauer die Harmonie – mit der Umgebung. „Fünfzig Prozent des Werkes“, sagt er, „sind meine Steine, fünfzig Prozent sind der Ort und der Betrachter.“ Jeder Eingriff soll erkennbar bleiben, nichts soll den Charakter des Materials verfälschen. So lapidar dieser Entschluss zu radikaler Schlichtheit klingt, er ist erwachsen aus einem Handwerk, das traditionell der Überhöhung dient.

Rückriem, 1938 in Düsseldorf geboren, hat neun Jahre lang die auf der Rheinseite gelegene Klosterschule Knechtsteden besucht, begann dann eine Lehre als Steinmetz und wurde Geselle an der Kölner Dombauhütte. Nach dem Studium bei Ludwig Gies teilte er das Atelier mit Blinky Palermo. In diesen Jahren entwickelte Rückriem jene Technik, die fast allen seinen Werken zugrunde liegt. Er teilt den Stein und setzt ihn dann wieder zusammen. Diese Geste der Hochachtung ist das Neue. Während das ursprüngliche Handwerk himmelwärts strebt, führt die Spur der Steine ins Innere der Erde. Rückriems Rohlinge bestehen aus Granit, aus Dolomit, Schiefer, Diabas oder Aachener Blaustein. Der Bildhauer spaltet mit Hammer und Sprengmeißel, er vierteilt mit Spitzeisen und Steinsäge oder schält die Steinkruste ab, wie bei der Skulptur für den Reichstag.

Erst an den feinen Konstruktionszeichnungen lässt sich jedoch sein wichtigstes Mittel erkennen: das Augenmaß, mit dem er Schnitte von höchster Präzision plant. Nach dem Zusammensetzen bleiben nur haarfeine Risse. Die Betrachter aber erhalten eine Vorstellung vom Volumen der Giganten und von ihrem eigenen Körpermaß. Was vordergründig wie ein Zweikampf zwischen Mensch und Material wirkt, endet bei dem dreimaligen Documenta-Teilnehmer im Ausgleich. Sein Duell kennt nur Sieger.

Mit dieser Strategie konnte ihm die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie 2004 so beeindruckend gelingen. Im Tempel von Mies van der Rohe hat er seine Kunst flach gehalten und die Steinplatten dem Maß der Bodenplatten angepasst. Die Glashalle erhielt dadurch eine organische Struktur, Rückriems Skulpturen aber wurden von der Hoheit der Architektur geadelt. Rückriem teilt gerne – Steine, Räume, geistigen Gewinn. Heute wird der in Irland lebende Bildhauer siebzig Jahre. In Steinzeit gerechnet, ist das noch kein Alter. Simone Reber

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