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Kultur: Sterben ist sexy

Wenn die Liebe wiederkehrt: „Intimacy“–Regisseur Patrice Chéreau hat mit „Sein Bruder“ einen Film über den Tod gedreht

Erster Eindruck: ein Streberfilm. Hier will einer alles, alles richtig machen. Jede Einstellung quillt über von Bedeutsamkeit. Jeder Satz hat mindestens vier Ausrufezeichen. Seht her, Leute, ich drehe mal eben den schnellen, ultimativen Film über das Sterben! Über die Liebe!! Die Bruderliebe!!! Die im Angesicht des Todes zwischen zwei einander fremd gewordenen Brüdern feierlich wieder erwachende Liebe!!!!

Zweiter Eindruck: Patrice Chéreau hat diesen Zug zum Streberhaften, zum Oberbeflissenen zeitweilig selber bemerkt. Dass er vor seinem eigenen Pathos in die Knie geht, dass er damit den Film und seine Zuschauer in die Knie zwingt, sanfter Erpresser mit einem Tod, der noch größer ist als die Liebe. Also bläst er ab und zu eine Art Sauerstoff ins Geschehen, ungelenke Lebensversuche. Was das Pathos noch verstärkt. Nur ganz große Komiker, die die wahren Philosophen sind, können mit dem Tod ein Tänzchen wagen. Und Chéreau mag vieles können – Humor, Ironie, Sarkasmus, die Zärtlichkeit für das Böse sind seine Sache nicht.

Dritter Eindruck: alles Kitsch, von der ersten bis zur letzten Minute (ein paar halbe Minuten mittendrin ausgenommen). Diese Dauerleidensmiene namens Thomas (Bruno Todeschini), 34 Jahre alt und an einer rätselhaften Blutkrankheit leidend, die ihm jeden Tag den Tod bringen kann, mit der er aber auch noch lange leben könnte, was er aber irgendwann nicht mehr will, weshalb er nackt den Tod im Meere sucht: Einen schön eitlen Heiland haben wir da, auf den die Kamera einen stets begehrlichen, anderweitig eitlen Blick wirft. Und, untrüglichstes Zeichen für Kitsch: die unfreiwillige Komik, die gerade im tragisch Gemeinten lauert. In den hingehauchten Sätzen. Im Gefühlsarrangement. Ja, auch „ash to ash, dust to dust“ gehört dazu: die spät ertönende „Sleep“-Trauerballade von Marianne Faithfull.

Vierter Eindruck (und alle diese Eindrücke funkeln seltsam durcheinander): Patrice Chéreau ist der falsche Mann für dieses Thema. Chéreau liebt das Leben und seine zauberischen Oberflächen, den Sex, die Haut und die sich aus aller Flüchtigkeit immer wieder erneuernde Sucht nach Lust viel zu sehr, um den Tod erfassen zu wollen. Und zu können. Hier inszeniert sich ein Todesflüchtiger ein Krankenhaus voll schöner Menschen, voll schöner junger Männer und entsagungsvoll ihrer ärztlichen Berufung (die Ärztin: Catherine Ferran) oder Restliebe (Claire: Nathalie Boutefeu) unterworfenen Frauen. Wie wunderbar rastlos hatte Chéreau den Lebenshunger in seinem noch so frischen Meisterwerk „Intimacy“ gefeiert, in aller Glückslust und Banalität, aller (Selbst-)Quälerei und unvermuteten Tiefe! Der Tod aber, den er diesmal so pathetisch aufs Podest setzt, um ihn 90 Minuten lang eifrig mit der Kamera einzukreisen, ist ihm eigentlich schnuppe.

Also: Thomas, 34 Jahre alt, hat ein paar Monate ergebnisloser Behandlungsversuche im Krankenhaus hinter sich, bevor er den vier Jahre jüngeren Bruder Luc (Eric Caravaca) zu Hilfe ruft. Beide haben sich jahrelang nicht gesehen, hegen einen nicht weiter erklärten Groll gegeneinander, den sie irgendwann – zwischen Krankenhaus, Wohnung, Sommerreisen an den Atlantik – auch aufeinander loslassen. Als aber das Drehbuch den Tod näher rückt, ringen sie sich zu Bekenntnissen der Bruderliebe durch, und alles wird gut. Sehr fern auch ist diese Bruderliebe in ihren Anfängen als homosexuelle erkennbar: Für den inzwischen schwul lebenden Luc war Thomas, „mit zwölf, dreizehn“, der erste Mann; hat ihm mal „einen runtergeholt, dafür sind Brüder doch da oder nich“, sagt er zu Thomas’ Freundin, die sich ihm in einem Augenblick der Verzweiflung an den Hals wirft. Ja, der Film holt die Brüder ins Leben des anderen zurück, indem er auch ihre Männerliebe – in leisen Echos nur – reaktiviert. Und im Namen auch dieser Liebe darf der große Bruder nochmal herrschen über den kleinen: Die Macht des Todes macht’s möglich. Erst scheint der Film das abzulehnen, erliegt dann aber der eigenen Suggestion.

Die Szene, als Claire Luc umarmt und plötzlich küsst: Sie ist verblüffend und groß. Auch der Gefühlsausbruch des Vaters, der Luc statt Thomas die Krankheit an den Hals wünscht, denn „der hätte wenigstens gekämpft“: kurz und stark. Merkwürdig: Von denen, die außerhalb der dauerfokussierten Bruderbeziehung stehen, erfahren wir am meisten über die Verwirrung und den Schmerz und die tiefe Hilflosigkeit des Menschen im Angesicht des Todes. Thomas und Luc dagegen spielen nur eine Idee davon.

Dazu gehört auch die Szene fast in Echtzeit, in der Thomas für eine Operation an der Milz am ganzen Körper rasiert wird, erst trocken, dann nass, diese Jesuswaschungsszene, dieses Renaissance-Gemälde, diese fünf Minuten, die viele Kritiker flugs in die Filmgeschichte beförderten. Dabei ist sie nicht viel mehr als eine Metapher für die Monstrosität des ganzen filmischen Vorhabens. Auf die Knie am Fußende des Bettes, Leute, betet für Thomas oder betet ihn wenigstens an, meinen Schmerzensmann!

Und so wirkt dieses körnige, mit der Handkamera ausgesucht intim gefilmte Sterbenspielen irgendwann nur noch obszön. „Sein Bruder“ meint vom Tod zu erzählen, aber er denkt ihn sich bloß aus; der Film schwärmt vom Sterben, wie ein Jugendlicher mit dem Tod schäkert, wenn er ein bisschen traurig ist und doch alle Verheißungen des Lebens noch vor sich hat. „Sein Bruder“, dieses Jahr auf der Berlinale mit dem Silbernen (Regie-)Bären fast so erfolgreich preisgekrönt wie Chéreaus „Intimacy“ 2001, ist in jeder Hinsicht ein Gegenstück zu „Intimacy“. Dort passte die jugendliche Vitalität des Endfünfzigers Chéreau in jeder Sekunde zum inneren Feuer seiner Protagonisten. „Sein Bruder“ probiert den Tod als sexy Thema – und ist doch nichts weiter als ein toter Film.

fsk am Oranienplatz, Kulturbrauerei, Xenon, Cinema Paris (Original mit Untertiteln)

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