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Kultur: Sterbliche Monster

Die Tanz-Biennale Venedig steht unter dem Motto „Awakenings“: Das kann auch mal böse ausgehen.

Von Sandra Luzina

Der kleine Platz nahe der Accademia-Brücke ist mit Wimpeln geschmückt. Die Bewohner feiern ein Stadtteilfest mit populärer Musik und herumtollenden Kinder. Wer dann die Chiesa Anglicana St. George betritt, eine Kirche von ungewohnter Nüchternheit, ist dem weltlichen Treiben sofort entrückt. Die britische Choregrafin Shobana Jeyasingh zeigt hier ihr Frauenstück „TooMortal“, das speziell für den Kirchenraum konzipiert wurde. Die Zuschauer sitzen direkt vor dem Altar – mit Blick auf die hölzernen Kirchenbänke.

Wie aus dem Nichts schießen die Körper von sechs Frauen empor und sinken mit einer dramatischen Rückbeuge auf das Gestühl. „TooMortal“ ist eine tänzerische Andacht ohne falsches Pathos. Es erinnert den Betrachter an die eigene Sterblichkeit. Die sechs Frauen, ungemein präzise Performerinnen, wirken wie eingepfercht in dem engen Gehäuse. Wiederholt versuchen sie auszubrechen, doch ihre impulsive Energie bricht sich an den hölzernen Barrieren. Sie können sich nur innerhalb der vorbestimmten Bahnen bewegen. Und immer wieder entziehen sie sich den Blicken, ihre Körper werden verschluckt, als tue sich zwischen den Kirchenbänken ein Grab auf.

„TooMortal“ ist eine der stärksten Arbeiten der diesjährigen Tanz-Biennale in Venedig. Der Eindruck wirkt noch lange nach, wenn man sich wieder dem touristischen Trubel überlässt. Der künstlerische Leiter Ismael Ivo holt für die achte Ausgabe, die den Titel „Awakenings“ trägt, wieder große Namen nach Venedig. So wird der belgische Berserker Wim Vandekeybus das Festival mit der Uraufführung „Booty Looting" beschliessen. Mit dem Goldenen Löwen wird diesmal die Französin Sylvie Guillem geehrt, die unangefochtene Königin unter den Tänzerinnen.

Als Scream Queen tobte Erna Omarsdottir über die Bühne des Teatro Piccolo Arsenale. Die Isländerin, die Stimme und Körper auf einzigartige Weise kombiniert, zeigte eine neue Version von „We saw monsters“. Die Produktion wird im Oktober auch beim Festival „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele zu sehen sein. Der Abend ist ein wilder Mix aus Horrorshow, Heavy-Metal-Konzert und Tanzperformance. Anfangs sieht man zwei blonde Mädchen in rosa Nachthemden, denen der Schrecken buchstäblich in die Glieder fährt. Die beiden verkörpern die bedrohte Unschuld, doch es dauert nicht lange, bis auch sie besessen sind. Erna Omarsdottir lässt zwei Knaben in Rot und Weiß an ihren nackten Brüsten saugen. Sie ist die Mutter, die die Kleinen nährt und zu Monstern macht. Und sie ist die verführerische Erzählerin, die mit einer kindlichen Stimme, die an Björk erinnert, schaurige Geschichten vorträgt. Die Horrorstories basieren auf realen Kriminalfällen wie dem eines deutschen Kannibalen oder eines amerikanischen Serienmörders, doch die durchtriebene Scheherazade leiht ihnen einen märchenhaften Ton. Auch Hitler irrlichtert durch das Monstrositäten-Kabinett: Diese Relativierung der NS-Verbrechen ist nicht das Einzige, was an diesem Abend irritiert. Erna Omarsdottir zieht einen mit ihrem explosiven Bühnentemperament in den Bann. Das Ganze erinnert aber eher an Kinder, die sich als Monster verkleiden.

Die Brasilianer des Balé Teatro Castro Alves legen dann eine verführerische Leichtigkeit an den Tag. Der Choreograf Henrique Rodovalho lenkt in „A quem possa interessar“ den Blick auf den Menschen hinter dem Darsteller. Die Tänzer, die zwischen 35 und 60 Jahren alt sind, stellen sich in wenigen Sätzen. Wie lässig einige der 50-Jährigen mit dem Älterwerden umgehen, wie sie sich ihre Sinnlichkeit und die Lust am Tanzen bewahrt haben, aber auch neue Erfahrungen zulassen: Rodovalho hat zwar nicht das Raffinement einer Pina Bausch, wenn er die Biografien der Tänzer als Material benutzt. Doch der Better-Aging-Abend begeistert durch die kraftvollen Performer und ihre ansteckende Lebenslust.

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