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Stichwort Aserbaidschan: Koroghlu, der Held

Vor dem Eurovision Song Contest: Wie die Musik in Aserbaidschan stets als Waffe im Freiheitskampf diente.

Light Your Fire! - Das Motto für den Eurovision Song Contest am 26. Mai hätte kaum treffender gewählt werden können, in Aserbaidschan, dem Land des Feuers. Nur anzuzünden braucht man nichts mehr, zumindest wenn es um die Leidenschaft für Musik und Gesang geht. Die glüht in den Herzen der meisten Aserbaidschaner wie die Flammen auf den brennenden Felsen von Yanardagh, am Stadtrand von Baku. Manchmal ist diese Leidenschaft noch mit einer weiteren gepaart: dem Drang nach Freiheit, so wie bei Rasul Dschafarov und seinen Mitstreitern, den Initiatoren der Gegenveranstaltung zum ESC „Sing for Democracy“ am 19. Mai.

Wer sich einlässt auf die aserbaidschanische Musikwelt, begegnet einer unglaublichen Vielfalt. Das Land, kaum größer als Bayern und an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident gelegen, überrascht. Schon in den jahrtausendealten Felszeichnungen im Nationalpark Gobustan finden sich erste Hinweise auf das musikalische Geschehen, später, im Mittelalter, dann in den Schriften des Dichters Nisami. „Der von Laila Besessene“ heißt seine berühmte Liebesgeschichte, deren Heldin uns fast allen vertraut ist – durch Eric Claptons sehnsuchtsvoll-verzweifelte Gitarrenriffs aus „Layla“.

Auf die Idee, den Stoff zu vertonen, kam lange vorher schon ein anderer. Der Aserbaidschaner Usejir Hadschibejow schuf 1908 die erste Oper der muslimischen Welt. Darin wird der Hirtenjunge Gais über seine Liebe zu Laila verrückt. In der Oper wechseln Arien und Chöre nach europäischem Vorbild mit Mugham-Gesang. Wie Mugham entstanden ist, darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse; man vermutet, dass es mit den Traditionen des Sufi-Mystizismus zu tun hat. Hinter den für unsere Ohren ungewohnten Dissonanzen ohne vorgegebenen Takt verbirgt sich eine hoch komplizierte Kunst. Das Geheimnisvolle aber ist, dass die spirituelle Energie von Mugham auch auf den völlig unbedarften Zuhörer ihre Wirkung entfalten kann. Er gleitet hinüber in einen Bewusstseinszustand nicht wie hypnotisiert, sondern eher meditativ und hoch konzentriert. Manche beginnen gar zu weinen.

Die Kunst des Mugham gelangte besonders in Schuscha in Berg-Karabach zur Blüte. Hier wurde auch der Komponist Hadschibejow geboren. Sein Vater war Sekretär bei der Fürstin und Dichterin Churschidbanu Natavan. Diese bemerkenswerte Frau war eine Art muslimischer Salondame, und Alexandre Dumas soll sich während seiner Kaukasusreise in sie verliebt haben. Vielleicht war es der Einfluss dieser Frau, der Hadschibejow zu einem Verfechter der Frauenrechte machte. So setzte er durch, dass schon 1912 die Rolle der Laila von einer Frau gesungen wurde – eine Provokation. Damals waren auch weibliche Rollen mit Männern besetzt. Es gab einen großen Skandal, Zuschauer verließen das Theater, die Sängerin musste durch den Hinterausgang flüchten.

1918 gelang die Gründung der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik, an der auch der Komponist Hadschibejow aktiv mitwirkte. Es war die erste Demokratie der islamischen Welt, mit einem Wahlrecht für Frauen und einem multiethnischen Parlament. Die neu gewonnene Freiheit währte nicht lange. Schon im Frühjahr 1920 marschierte die Rote Armee ein und Aserbaidschan wurde Teil des Sowjetreiches. Hadschibejow blieb im Land, auch unter Stalin.

1937 wurde die Premiere seines bedeutendsten Werkes gefeiert. Es ist die Oper „Koroghlu“: Der Vater des fahrenden Sängers Rovschan wird wegen einer Nichtigkeit vom Herrscher geblendet. Darauf schwört dieser als Koroghlu (Sohn des Blinden) bittere Rache. Er geht in die Berge, sammelt dort Kampfgefährten aus dem unterdrückten Volk. Die Sache endet für den Volkshelden schließlich siegreich.

Stalin ist begeistert, Hadschibejow wird gleich mit zwei prestigeträchtigen Medaillen belohnt. „Aserbaidschaner betrachten Koroghlu keineswegs als frühen Bolschewiken“, erläutert der Historiker Farid Alakbarov. „Für die Aserbaidschaner symbolisiert er die universelle Frage nach Freiheit und Unabhängigkeit." Das wurde in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion offenbar, als die „Koroghlu“-Ouvertüre zu einer Art inoffizieller Nationalhymne avancierte. Während der Protestkundgebungen klang die Musik aus den Lautsprechern – und bestärkte die Menschen in ihrem Verlangen nach Unabhängigkeit.

Und da ist sie wieder: Auf der Website von „Sing for Democracy“ ertönen die ersten Takte der Ouvertüre. Gefragt, was „Koroghlu“ für ihn und seine Freunde bedeute, antwortet Rasul Dschafarov ohne zu zögern: „Koroghlu war ein Held. Unsere Situation ist der von Koroghlu sehr ähnlich.“

Eine Oper, die unter jungen Leuten derart populär ist, schreit geradezu nach einer neuen, zeitgemäßen Inszenierung, wenn nicht gar einer kritischen Auseinandersetzung mit dem autoritären Alijev- Regime. Doch das wird in Aserbaidschan nicht möglich sein. Die Kulturförderung befindet sich fest in den Händen der Heydar-Alijev-Stiftung, geleitet von der First Lady Mehriban Alijev persönlich. In den Genuss von Fördergeldern kommt nur, wer der Regierung Linientreue beweist und dies auch kundtut.

Künstler, die sich weigern, als Diener des Regimes aufzutreten, werden hart bestraft. So wie die großartige Sängerin Flora Kerimova. Mehr als zehn Jahre durfte sie nicht auftreten. Der beliebte Komponist Dschawanschir Gulijev hingegen zog die Konsequenzen und verließ das Land. Er lebt heute in der Türkei. Gegangen ist auch Aziza Mustafa Zadeh. Die Jazzsängerin und -pianistin lebt heute in Deutschland. Aziza ist die Tochter von Vagif Mustafazadeh, der aserbaidschanischen Jazz-Legende. Er begründete ein eigenes Genre, den „Mugham-Jazz“.

Sarah Baumgart

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