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Kultur: Stille Tage in Königsberg

Eine Fotoausstellung auf Schloss Caputh zoomt die Vergangenheit heran

Die Spinnerin mit den großen Augen in dämmriger Stube. Herrschaften auf der Freitreppe, etwas von oben herab. Barfüßige Kindergartenkinder, misstrauisch und neugierig, mit resoluter Diakonisse und mürrischem Dackel. Die Blicke der Porträtierten fixieren den Betrachter.

Eigentlich waren sie selbst nicht gemeint. Damals, vor 80, 100 Jahren, hatte der Mann mit der Kamera den Ort oder das Gebäude daneben dokumentieren wollen. Viele haben sich trotzdem schick gemacht für das Ereignis. Feierlich posieren sie vor dem Objektiv. Auf der Original-Fotografie sind sie nur kleine Statisten. Trotzdem berührt ihr Blick, in der Vergrößerung. Bauernfamilien am Gehöft: knorrige Gesichter, schmale Lippen. Strizzi mit Melone und arroganter Ober im Kurlokal. Schnauzbärtiger Postbote mit Wanderstock und Ledertasche.

Im Rahmen eines Digitalisierungsprojekts am Institut für Kunstforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften wurden die Fotografien unter 6600 Glasnegativen des Denkmalamtes Königsberg entdeckt. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa und die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg haben daraus die Ausstellung „Der Fotograf ist da!“ gemacht. Das Szenario hat sich verselbständigt: Wo es den Dokumentaristen seinerzeit um Topografie ging, sind für uns die Passanten, die nur den Maßstab des Gebäudes verdeutlichen sollten, die interessanteren Monumente. Sie haben sich dem neuen Medium, das für sie noch geheimnisvoll war, gestellt, haben stramm gestanden, sich preisgegeben.

Manche Bilder wiederum sind Schnappschüsse ohne Blickkontakt. Da wird um 1910 auf dem Steindamm in Königsberg eine Gaslaterne repariert; zwei Mädchen mit langen Mänteln, Hüten und Schulbüchern schauen zu – und die Kamera. So erzählen die Bestandsaufnahmen Alltagsleben.

Besser als der Ausstellung mit 34 Fotografien im Schloss Caputh gelingt die Vermittlung der historischen Erzählungen allerdings dem Katalog. Er enthält nicht nur doppelt so viele Motive, er präsentiert auch die originalen Totalen mit markiertem Ausschnitt. So entsteht im Betrachter die Bewegung der Annäherung, ein Film der Stimmungen und Kontexte. Gesichter hinter Fensterscheiben tauchen auf. Eine Straßenecke weitet sich zum Marktplatz, ein verlorenes Haus zur einsamen Landschaft.

In der Beziehung von „objektivem“ Panorama und „subjektivem“ Ausschnitt spiegelt sich zudem die Vielschichtigkeit der Erinnerung zwischen Mikro- und Makroperspektive: die Frage, wie sich Ostpreußens wechselvolle deutsch-russischpolnisch-litauische Geschichte didaktisch übersetzen lässt. Dazu skizziert ein Besucher im Gästebuch die passende Vertreibungsgeschichte: wie seine Vorfahren, die Nachkommen eingewanderter friesischer Arbeiter, Ende des 19. Jahrhunderts von billigeren polnischen Arbeitern verdrängt, wie diese 50 Jahre später nach Deutschland vertrieben wurden. Solche Kamerafahrten des historischen Blicks zwischen Gesamtansichten und individuellen Zooms müssten auch ein – ideologiefreies – Zentrum zur Dokumentation der europäischen Vertreibungen bestimmen.

An einem Vormittag anno 1902, zehn Uhr fünfzehn, drückt der Kameramann in Wehlau auf den Auslöser. Der Lokomotive entfährt eine Dampfwolke. Passagiere und Beamte stehen an der Rampe vor dem Ziegelbau des Bahnhofs, schauen hinüber zu uns, ins 21. Jahrhundert. Ihre Zeit steht still. Die eindrucksvollsten, seinerzeit als missglückt aussortierten Bilder des Denkmalamts zeigen zugleich den Stand der Dinge und das Tempo der Entfernung, die Erosion der Gedächtnisse. Ein altes Holzhaus in Johannisburg und den am Rand unscharf auftauchenden Fotografen umhüllen Nebel. Das kleine Mädchen an der Allenburger Marktecke vor der Weinhandlung Pilaski, die auch Negerküsse verkauft, trägt zwei große Flaschen übers bucklige Pflaster und führt die verwackelte Hand zum Mund.

Auf dem Originalbild zerfrisst weißer Dunst die Häuser am Straßenrand. Zwischen 1901 und 1915 ist das Foto datiert. Heute heißt Allenburg Druzba. Die schönsten Erinnerungen sind verwackelt

Schloss Caputh, bis 16. Oktober, Di. bis So., 10 bis 17 Uhr. Katalog 19,80 Euro.

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