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Kultur: Strahlend

Dianne Reeves singt im Kammermusiksaal

Von Jörg Wunder

Was für ein Wagnis: Dianne Reeves hat sich einen Künstler ins Vorprogramm geholt, der viele Hauptacts blass aussehen lassen würde. Raul Midón, 44-jähriger blinder Amerikaner, wird mit einer Westerngitarre hinters Mikro geführt und legt los. Federt perkussiv über Saiten und Griffbrett. Singt federleichte Melodielinien, scattet, imitiert mit gepressten Lippen Trompetensoli, die unisono mit den Gitarrenläufen dahinrasen – wie Al Jarreau, Stevie Wonder und Miles Davis in einer Person. Das Publikum im halb gefüllten Kammermusiksaal ist begeistert.

Nach der Pause Neustart. Wenn man die 54-jährige Dianne Reeves nur von ihren Platten mit geschmackssicheren Jazz-Standards kennt, ist man auf das Live-Erlebnis nicht vorbereitet. Ihre Präsenz, ihr Strahlen, dazu ein enorm variantenreiches Stimmvolumen – vom zarten Säuseln zum fauchenden Grollen. Es gibt keine Grenzen zwischen Jazz, Soul, Gospel und Blues. Sie ist Ella, sie ist Aretha, sie ist Mahalia, sie ist sie selbst. Dazu die vierköpfige, perfekt eingespielte Band, aus der der grimassierende Pianist Peter Martin und der Gitarrenvirtuose Romero Lubambo als Solisten hervorragen. Dezent leiten sie Reeves durch Stücke, die man so noch nie gehört hat: Bille Holidays Eifersuchtsballade „Don’t Explain“ lodert leidenschaftlich, Gershwins „Our Love Is Here to Stay“ steigert sich von einer lasziven Rumba zur karnevalesken Ode. Stehende Ovationen, als Midón zum furiosen Duett zurückkommt. Als Zugabe befreit Dianne Reeves den Klassiker „What a Wonderful World“ von all den Gemeinheiten, die ihm in Jahrzehnten von minderbegabten Interpreten angetan wurden, und bringt ihn mit herzzerreißender Zärtlichkeit neu auf die Welt. Eine wunderbare Welt, in der man solche Konzerte erleben kann. Jörg Wunder

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