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Patriarch mit Anhang. Der 100-jährige Maurice Nadeau 2011 bei einer Aufzeichnung für France Culture im Odéon Théâtre de l'Europe mit seiner Tochter Claire Nadeau (links) und Tiphaine Samoyault, einer Anführerin des Aufstands gegen die neue Linie der "Quinzaine Littéraire".

© Βερναρδ/Wikipedia

Streit um "La Quinzaine Littéraire": Auszug der Dissidenten

Wer tritt das publizistische Erbe von Maurice Nadeau an? Das neu gegründete Webzine "En attendant Nadeau" und die traditionsreiche "Quinzaine Littéraire" streiten um die Vorherrschaft im französischen Literaturhimmel.

Von Gregor Dotzauer

Der Herr, dessen Ankunft das Webzine „En attendant Nadeau“ beschwört, kommt nimmermehr. Er wird so wenig auftauchen wie jener ominöse Mensch, den die Landstreicher Wladimir und Estragon in Samuel Becketts „En attendant Godot“ erwarten. Auf Maurice Nadeau kann man allerdings tatsächlich nicht mehr rechnen. Der große französische Verleger, Herausgeber und Kritiker, starb 2013 im Alter von 102 Jahren. Wenn er so etwas wie ein glanzvolles literarisches Jahrhundert verkörperte, so wirkte seine Epoche zuletzt doch schon ein wenig schäbig. Noch zu seinen Lebzeiten geriet die „Quinzaine Littéraire“, das einflussreiche Magazin, das er 1966 zusammen mit François Erval begründet hatte, ins Schlingern. Die Auflage sank auf unter 10 000 Exemplare, und die intellektuelle Öffentlichkeit, die sich in der nicht nur literarischen, sondern auch geisteswissenschaftlichen künstlerischen Themenbreite der „Quinzaine“ wiederfand, zerbröselte unter dem Aufmerksamkeitsangriff anderer Medien.

Das Blatt ging nach Nadeaus Tod kurzzeitig in die Insolvenz, um in einer neuen Gesellschaft wiederzuerstehen, die neben den Alteigentümern, einer namhafte Autoren einschließenden Société des Contributeurs et des Lecteurs, mit Patricia De Pas eine neue Mehrheitseignerin einführte. Zwei Jahre lang versuchte sich das aus Tiphaine Samoyault, Pierre Pachet und Jean Lacoste bestehende Leitungskomitee mit ihr zu arrangieren und die Arbeit im demokratischen Geist Nadeaus fortzusetzen. Im vergangenen Herbst kam es zum Zerwürfnis.

Der Umgangston war das Problem

Patricia De Pas war von ihrem Versprechen abgerückt, sich nicht inhaltlich einzumischen. Sie plante eine Grunderneuerung der „Quinzaine“, eine Verjüngung der Leserschaft, kündigte den sofortigen Umzug an die Université Paris II Assas an – und setzte neben dem Komparatisten Hugo Pradelle überdies das Leitungsteam an die Luft. In einem landesweit Wellen schlagenden Communiqué beschwerten sich die drei anschließend vor allem über die rücksichtslose Art und Weise, mit der sie diese Radikalkur, die sie zur Überlebensfrage erklärte, in die Tat umsetzte.

Streitbare Mehrheitseigentümerin. Patricia De Pas.
Streitbare Mehrheitseigentümerin. Patricia De Pas.

© @patrictiadepas/Twitter

Die zum Auszug gezwungenen Dissidenten blieben nicht untätig. So erblickte im Januar unter en-attendant-nadeau.fr der erste von mittlerweile drei Gegen-„Quinzaines“ als „journal gratuit de la littérature, des idées et des arts“ das Displaylicht der Online-Welt (auch als PDF-Version). Parallel dazu erscheint die „Nouvelle Quinzaine Littéraire“ weiter im Druck und erhebt in Patricia De Pas’ Brief an die Leser ebenfalls den Anspruch, das Erbe von Maurice Nadeau fortzuführen – mit neuen Rubriken aus den Bereichen klassische Musik, digitale Geisteswissenschaften und Konferenzberichterstattung.

Wie es zuging zwischen den Fraktionen, lässt sich aus der Ferne nicht beurteilen. Fest steht nur, dass sich Tiphaine Samoyault (als Biografin von Roland Barthes), Pierre Pachet (mit autobiografischer Prosa) und Jean Lacoste (als Goethe-Spezialist) auch außerhalb der „Quinzaine“ einen Namen gemacht haben. Über Patricia De Pas lässt sich außer der Existenz eines Twitter-Accounts mit einem hübschen Bild von ihr zunächst nur in Erfahrung bringen, dass sie in Marseille das Gymnasium besuchte, an der Sorbonne einen Master in politischer Philosophie erwarb und an der Grande École Sciences Po ein Wirtschaftsstudium absolvierte.

Wie kommt Martin Suter auf die heiligen Seiten?

Wer daraus aber schließen wollte, dass sich die „Nouvelle Quinzaine“ dem Massengeschmack an den Hals geworfen hätte, während „En attendant Nadeau“ die wahre Literatur verteidigt, macht es sich zu einfach. Wie sonst hätte Martin Suters Finanzkrimi „Montecristo“ auf die heiligen Seiten finden können? Und ist „Figures d’éxil“, das Leitthema der aktuellen „Quinzaine“ mit Beiträgen zu Rimbaud, Freud und Moses leichte Kost?

Figuren des Exils. Das Cover der jüngsten Ausgabe.
Figuren des Exils. Das Cover der jüngsten Ausgabe.

© R/D

Auch die Qualität der Texte nimmt sich nichts. Beide Publikationen nehmen ausländische Literatur in den Blick, mit Matthias Zschocke und Terézia Mora auch deutschsprachige. Beide tummeln sich ausgiebig im Feld der Theorie – vielleicht, weil da noch immer mehr passiert als auf dem der Literatur. Man lese in „En attendant Nadeau“ nur einmal das Gespräch mit André Velter zum 50-jährigen Bestehen der Poesie-Reihe bei Gallimard. Von der glorreichen Vergangenheit ist darin sehr viel ausführlicher die Rede als von der Gegenwart. So kurz vor dem 50. Geburtstag der „Quinzaine“ ist das für die Aussichten beider Publikationen hoffentlich kein schlechtes Omen.

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