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Struwwelpeter

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Struwwelpeter: Wer nicht hören will

Rebell und Biedermann: zum 200. Geburtstag des "Struwwelpeter"-Vaters Heinrich Hoffmann.

„Sieh einmal, hier steht er, / Pfui! Der Struwwelpeter!“ Mit diesem Paarreim beginnt der möglicherweise erfolgreichste Erziehungsberater der europäischen Kulturgeschichte. Angeprangert wird eine der schlimmsten Formen menschlichen Fehlverhaltens: kindlicher Trotz. Der Struwwelpeter verabscheut Kamm und Schere. „An den Händen beiden / Ließ er sich nicht schneiden / Seine Nägel fast ein Jahr / Kämmen ließ er sich nicht sein Haar“, fährt warnend das Gedicht fort. Darüber sieht man, breitbeinig auf einem Sockel postiert, die traurige Gestalt des Angeklagten. Sein schulterlanges Haar wölbt sich zur kugeligen Afrolookfrisur, die Fingernägel sind krumm verwachsene Krallen. Und jeder Betrachter ist aufgefordert, umgehend seine Abscheu zu artikulieren: „Pfui! ruft da ein jeder: / Garst’ger Struwwelpeter!“

Als der „Struwwelpeter“, gedichtet und gezeichnet von dem Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann, zu Weihnachten 1845 in einer Erstauflage von 1500 Stück herauskommt, lautet sein verharmlosender Titel noch „Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren“. Sofort tritt das Buch seinen weltweiten Siegeszug an. 1847 erscheint eine dänische, 1848 eine englische und eine russische Ausgabe. Allein bis 1894, dem Jahr, in dem Hoffmann stirbt, werden 188 deutsche Auflagen gedruckt und rund eine Million deutsch- und englischsprachige Exemplare verkauft. Der „Struwwelpeter“ ist bis heute ein internationaler Kinderbuchklassiker, sein Erfolg lässt sich allenfalls mit „Alice im Wunderland“, „Pu, der Bär“ oder Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“ vergleichen. Längst sind die Figuren des Bandes – der „Zappel-Philipp“, „Hans Guck-in-die-Luft“ oder der vom Sturm hinfortgetragene „fliegende Robert“ – sprichwörtlich geworden.

Das doppelte „Pfui!“ der Titelgeschichte wurde als Plädoyer für eine autoritäre Erziehung verstanden. Denn alle Episoden, in der Kinder ihre Renitenz ausprobieren, enden in der Katastrophe. Tierquäler Friederich – „der Friedrich, der Friederich / Das war ein arger Wüterich!“ –, der einen Hund mit seiner Peitsche malträtiert, landet mit Bisswunden im Krankenbett. Dem Daumenlutscher Konrad schneidet - bauz! – der „Schneider mit der Scher’“ beide Daumen ab. Der Suppen-Kaspar, der immer wieder beteuert: „Nein, meine Suppe ess’ ich nicht“, hungert sich binnen fünf Tagen zuerst zum Strichmännchen herunter und dann direkt ins Grab. Vom Paulinchen, das „allein zu Haus“ gegen alle elterlichen Verbote mit den Streichhölzern spielt, bleibt nichts als ein Haufen Asche. Und der verträumte Hans Guck-in-die-Luft, der – „noch ein Schritt! und plumps“ – in den Fluss fällt, wird zwar von zwei Arbeitern wieder herausgezogen, dafür aber von den Fischen ausgelacht.

Die antiautoritären Achtundsechziger sahen im „Struwwelpeter“ ein Musterbeispiel jener „Schwarzen Pädagogik“, die mit Gewalt und Angstmacherei den kindlichen Eigensinn brechen wollte. Der Frankfurter Zeichner F. K. Waechter – selber ein Afrofrisurenträger – veröffentlichte 1970 seinen „Anti-Struwwelpeter“, in dem nicht mehr die revoltierenden Kinder, sondern die repressiven Erwachsenen auf die Schnauze fliegen. Hier reißt des Zappel-Philipps tobender Vater das Tischtuch mitsamt Suppe und Geschirr zu Boden, und auch der Schneider mit der Scher’ erhält seine wohlverdiente Strafe : „Über ein paar Schinkengrieben, / die mit Seife eingerieben, / schlägt er nun der Länge lang / gegen Mutters Ofenbank.“ In den Hommagen und Ausstellungen, mit denen der Autor Heinrich Hoffmann zu seinem 200. Geburtstag geehrt wird (siehe Kasten), könnte man nun das Indiz für einen erneut gewendeten Zeitgeist vermuten, der sich wieder nach Disziplin sehnt und Kinder für – so ein aktueller Bestsellertitel – „Tyrannen“ hält.

Doch die Verehrer und Verächter tun dem „Struwwelpeter“-Erfinder Unrecht. Denn aus seiner Zeit heraus betrachtet war Hoffmann vor allem eins: fortschrittlich. Die „Struwwelpeter“-Geschichten entstanden nicht, um Kinder einzuschüchtern, sondern, ganz im Gegenteil, um sie zu beruhigen. Hoffmann, am 13. Juni 1809 in Frankfurt am Main geboren, hatte sich 1834 nach Studienjahren in Heidelberg, Halle und Paris als Arzt und Leichenbeschauer in seiner Heimatstadt niedergelassen. Bei Hausbesuchen stellte er fest, dass er seinen kindlichen Patienten die Angst nehmen konnte, indem er ihnen mit Bleistift und Papier kleine Geschichten erzählte: „Der wilde Oppositionsmann wird ruhig, die Thränen trocknen, und der Arzt kann spielend seine Pflicht tun.“

Auf derlei Geschichten griff Hoffmann zurück, als er 1844 ein Bilderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen damals dreijährigen Sohn Carl zeichnete. Nachdem er mit einer Lesung daraus in der „Gesellschaft der Tutti Frutti“, einer Vereinigung von Honoratioren und Bohemiens, für Furore gesorgt hatte, überredete ihn der Verleger Zacharias Löwenthal zu einer Buchausgabe. Die Tantiemen machten Hoffmann reich, aber unter dem Erfolg seines Buches hat er auch gelitten. Später nannte er es verächtlich einen „zufälligen häuslichen Scherz“. Denn der „unvernichtbare Struwwelpeter“ ließ vergessen, was dessen Schöpfer für sein eigentliches Lebenswerk hielt: eine gewaltige literarische Produktion, zu der Dramen, Romane, Versepen, Satiren und Märchen gehörten, vor allem aber der Ausbau der Frankfurter „Anstalt für Irre und Epileptische“ zu einer jugendpsychiatrischen Pioniereinrichtung.

Hoffmann wollte „die Märchenwelt herunter in die Kinderstube bringen“, als er sich an den „Struwwelpeter“machte. Dessen drastisch übertriebener Realismus sollte ein Gegengift sein zu den idealisierenden Inszenierungen der biedermeierlichen Bilderbücher. Statt für das Harmonische, das hatte der Arzt immer wieder bemerkt, entschieden sich Kinder lieber für das Groteske, Komische und Bizarre. So schwingt in Hoffmanns scheinbar so zeigefingernd mahnenden Geschichten etwas vom umstürzlerischen Geist der Vormärz-Ära mit. An der Märzrevolution von 1848 beteiligte sich der Autor begeistert, er ließ sich ins Vorparlament der Frankfurter Nationalversammlung wählen, war aber bald vom Rigorismus linker Republikaner wie seines Jugendfreundes Friedrich Hecker befremdet.

Der Katalog zu einer Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt nennt Hoffmann einen „Mann der Mitte und des Ausgleichs“. Unter dem Pseudonym Peter Struwwel polemisierte er gegen revolutionäre Dogmatiker und klerikale Reaktionäre. So darf man im „Struwwelpeter“ wohl auch ein Selbstporträt erkennen. Als Kind war Hoffmann renitent. Einem vom Vater geerbten Schaukelpferd sägte er – ritsche, ratsche – die Beine ab.

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