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Kultur: Stunde der Schlammpoeten

Nach der Flut: Die Dresdner Semperoper spielt wieder in ihrem Stammhaus

Gottfried Semper kannte die Elbe nur zu gut: Keine vier Jahre, nachdem sein erstes Dresdner Opernhaus eingeweiht worden war, überspülte ein Hochwasser 1845 das Haus. Als der Architekt dann 1869 vom sächsischen Regenten zum zweiten Mal mit dem Bau eines Musiktheaters beauftragt wurde, nachdem das Gebäude abgebrannt war, verlegte er nicht nur den Eingang von der Elbseite hin zur Hofkirche, sondern setzte das gesamte Prunkgebäude auch auf einen erhöhten Sockel. Wäre diese massiv gemauerte „Flutschutzwanne“ nicht in den sechziger Jahren unterirdisch mit dem neu errichteten Verwaltungstrakt verbunden worden, die Semperoper hätte das Augusthochwasser im wahrsten Wortsinn trockenen Fußes überstanden. So aber konnten die Fluten zweimal vom „Funktionsgebäude“ aus ins Untergeschoss eindringen: Am 13.8. schoss die Weißeritz in den Keller, als sich das sonst so harmlose Rinnsal mit Gewalt sein altes Flussbett direkt hinterm Bühneneingang der Semperoper zurückeroberte. Vier Tage später verwandelte dann die Elbe den Vorplatz erneut in einen See.

Christoph Albrecht erzählt das alles ganz ruhig. Dabei hätte der Semperopern-Intendant allen Grund zur Verzweiflung: Während nämlich in Berlin die Bühnentechnik der Lindenoper in den Nachwendejahren vor sich hin rottete, investierte der Freistaat Sachsen seit 1990 großzügig in seine Leuchttürme, erneuerte für viel Geld Beleuchtung, Ober- und Untermaschinerie. Auf 21 Millionen Euro wird der Schaden beziffert, den die Fluten allein in der Semperoper anrichteten. Doch Klagen hört man hier ebensowenig wie in den anderen betroffenen Kultureinrichtungen. Im Gegenteil: Das Hochwasser hat nicht nur die Menschen, sondern auch die Institutionen zusammengeführt. Während die Flut im bundesrepublikanischen Bewusstsein längst verblasst ist, erlebt der Besucher in der sächsischen Kapitale eine mitreißende Wiederaufbau-Euphorie.

Überall schwärmt man von lokaler und überregionaler Hilfsbereitschaft. In der Musikhochschule, die von der förmlich über ihre Ufer explodierenden Weißeritz ebenso geflutet wurde wie Hauptbahnhof, Zwinger, Schauspielhaus und Semperoper, geht der Blick nach vorn: Hier, wo die braune Brühe 2,30 Meter hoch stand, wird wieder die Mensa entstehen, dort, wo das wilde Wasser den Konzertflügel umgerissen hat, kann bald wieder unterrichtet werden. Dabei waren die Renovierungsarbeiten an der Hochschule erst zum letzten Herbstsemester-Start abgeschlossen worden.

In Dresden sind derzeit Dinge möglich, die unter normalen Umständen undenkbar wären. Nicht nur die Hilfsgelder werden zügig verteilt, auch die Genehmigungsverfahren sind entbürokratisiert. Darum konnte das Dresdner Schauspielhaus, in dessen Keller und Kassenhalle 26 000 Kubikmeter Wasser eingedrungen waren, schon Ende September einen provisorischen Spielbetrieb aufnehmen. Darum war die Heizungsanlage der Hochschule so schnell wieder funktionstüchtig, dass der Beginn des Studienjahrs gerade mal um eine Woche verschoben werden musste. Darum wird es auch in der Semperoper ab dem 9. November wieder losgehen, am Sonnabend mit „Schwanensee“, das auch am Tag der Katastrophe auf dem Spielplan stand, ab 13.11. dann mit Ruth Berghaus’ legendärer Inszenierung von Richard Strauss „Elektra“. Vom 15. Januar bis 23. März ziehen allerdings noch einmal die Handwerker ein. Dafür will Albrecht aber den Sommer durchspielen lassen. Denn die Semperoper, die in ihrem Etat eine Durchschnitts-Auslastung von 97 Prozent auch für diese Saison einkalkuliert hatte, braucht dringend Einnahmen, genauso wie die gesamte Stadt.

Darum drangen die Stadtväter darauf, dass zum Vorweihnachtsgeschäft die „Leuchttürme“ wieder strahlen. Darum begann nach der Flutkatastrophe auch sofort die Suche nach einer Ausweichspielstätte: Freundschaftliche Verbindungen zwischen dem technischen Direktor des Musiktheaters und dem Chef der Anfang diesen Jahres eröffneten VW-Manufaktur ließen schnell die Idee einer Zusammenarbeit aufkommen. „Beim Ortstermin dachte ich: für eine Bespielung kommen nur zwei Künstler in Frage: entweder John Neumeier oder Harry Kupfer“, erzählt Intendant Albrecht. „Und ob Sie’s glauben oder nicht: Als ich ins Büro zurückkomme, hat Kupfer dort die Nachricht hinterlassen: Wenn ihr mich braucht, ruft an!“ Drei Tage später steht fest: Kupfer, der von 1971 bis zu seiner Berufung als Chefregisseur an die Komische Oper zehn Jahre in Dresden als Operndirektor arbeitete, wird seine Berliner „Carmen“-Version ins Foyer des noblen VW-Werks übertragen.

Auferstehung und Untergang

Die erfolgreichste Arbeiter-Oper des 19. Jahrhunderts in der Fabrik des 21. Jahrhunderts – das passt verfremdungseffekttechnisch bestens zusammen. Carmen und ihre Kolleginnen aus der Zigarretten-Rollerei wechseln für 12 Aufführungen den Arbeitgeber, die Schmuggler verschieben Auto-Ersatzteile über die stahlglänzenden Balkone und Emporen von Gunter Henns Architekturlandschaft. Und Escamillo, der Torero, fährt im Phaeton vor. VW kam der Semperoper gern entgegen, weil man das Dresdner Vorzeigeobjekt sowieso „mit Geist füllen“ will (unter anderem durch die TV-Aufzeichnung des „Philosophischen Quartetts“). Selbst der Hauptsponsor Daimler Chrysler arrangierte sich mit der Konkurrenz. Alle Aufführungen bis zum 22. November sind ausverkauft.

Während die Semperoper aufersteht, droht einem anderen Dresdner Traditionshaus das Aus. Und das, obwohl es nicht von der Flut betroffen war: Am 14.Oktober erklärte Oberbürgermeister Ingolf Roßberg, er wolle die Staatsoperette Dresden zum 1. August 2003 schließen. Dabei hatte sich der FDP-Politiker im Wahlkampf noch für Europas letztes autonomes Operettenhaus stark gemacht. Seit 1947 wird in einem ehemaligen Ballhaus im Vorort Leuben die Leichte Muse gepflegt. Mit Unterstützung der Politik sollte das Provisorium endlich ein Ende haben. Doch die Investorenmodelle für einen Umzug in die Innenstadt liegen nach der Abwicklungsandrohung nun wieder auf Eis.

Die Staatsoperette ist Teil einer „Liste der Grausamkeiten“, mit der der OB Dresdens Haushalt konsolidieren will. Alle Ressorts müssen bluten, die Kultur soll bis 2005 elf Millionen Euro strukturell einsparen. Die Verwaltungschefin der lokalen Kulturbehörde, Doris Oser, spricht selber von einem „Bauernopfer“. Statt überall weiter nach dem Rasenmäherprinzip zu sparen, will man einen harten Schnitt wagen. Dabei wurde von der Stadt mit Wolfgang Schaller gerade erst ein neuer Intendant bestellt.

Finanziell ist das Operettenhaus schon lange verschlankt: 250 Mitarbeiter bieten für gerade einmal zehn Millionen Euro Subventionen im Jahr über 200 Vorstellungen in dem 600-Plätze-Haus. 15 Stücke werden im Repertoirebetrieb gespielt, neben Operettendauerbrennern und Musicalklassikern manche Rarität wie Natschinkis Oscar-Wilde-Spaß „Mein Freund Bunbury“. Und auch neuesten Produkten steht man keinesfalls skeptisch gegenüber: Ende Januar 2003 kommt als deutsche Erstaufführung Andrew Lloyd Webbers „The Beautiful Game“ heraus. Ob es der Staatsoperette etwas nützen wird, dass deutschlandweit Dutzende Hochkulturinstitutionen hin zu den Berliner Philharmonikern gegen die Schließungspläne protestiert haben? Am 17.Dezember muss sich der Stadtrat entscheiden.

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