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Kultur: Stunde der Wahrheit

Luk Perceval inszeniert Monteverdis „Marienvesper“ an der Lindenoper

Er ist eine ganz gute Beschreibung für das, was sich in der Oper zwischen Regisseuren und Dirigenten zuträgt, dieser Kampf zwischen Tancredi und Clorinda, wie Claudio Monteverdi ihn in seinem 8. Madridalbuch auskomponiert hat. Darin schlagen zwei Liebende in Stolz und Verblendung so lange aufeinander ein, bis beide in ihrem Blute liegen, und reizen sich weiter zum Tode. Sterbend bietet Clorinda Vergebung und verlangt nach der Taufe. Sie sieht den Himmel sich öffnen – und lässt ihren blutbefleckten Liebhaber in größter Einsamkeit zurück.

Man muss Luc Perceval einfach glauben, dass er es versucht hat, dass er gekämpft hat mit offenem Visier. Der Hausregisseur der Schaubühne ist kein Mann für hübsch anzusehende Bühnenkompromisse, die dann jahrelang über die Festivals tingeln. Perceval bahnt sich den Weg zu unserem Schmerz, zu unserer Nacktheit – und schleudert fort, was ihn an Theaterkonventionen daran hindern könnte: Klassikerverse, Bühnenbilder, Contenance. Nun hat er, der sich so furios durch Shakespeare, Schiller und Tschechow gekämpft hat, in René Jacobs seinen Meister gefunden.

Perceval und Jacobs, die beiden Belgier, bringen zum Abschluss des Monteverdi-Zyklus an der Berliner Staatsoper eine durch den eingeschobenen „Kampf zwischen Tancredi und Clorinda“ aufgebrochene „Marienvesper“ auf die Bühne. Ein wohlgesetzter dramaturgischer Keil, der musikalisch wundersam schlüssig das Loblied auf die Heilige Jungfrau mit dem tödlich verlaufenden Liebeskampf kontrastiert. Ein starker Anker auch, der Monteverdis mit all ihrer Pracht trunken machende Vesper in irdischen Gefilden halten soll, nahe bei uns Erlösungsbedürftigen. Und tatsächlich begegnet der Zuschauer zunächst sich selbst, wenn alle Sänger, Musiker und Statisten in Alltagsklamotten das Bühnenbild erklimmen, immer hinauf wie über die Terrassen eines Weinbergs, ein großes Relief bilden – ein Menschenbild, versunken und stolz, schön und traurig zugleich.

Zwölf Meter überragt diese Bühneninstallation ihren Dirigenten, auf fünf Ebenen türmen sich die Adressaten seiner aus den Fußspitzen herausgepumpten Einsätze. Jacobs wirkt kleiner und weniger gelöst, als man ihn kennt angesichts dieses himmelsstürmenden Tableaus, in das sich zu allem Überfluss auch noch musikalisch unnötige, weil stumme Betrachter eingeschlichen haben. Ein Paar Zwillingsschwestern mit Goldkreuzen um die Hälse, ein zerknitterter Alter in Leinenhose, ein Mädchen mit kurzem Jeansrock und langen Beinen und, ganz oben in der Mitte, der Kerl mit diesem mausgrauen Anzug. Sie wandern umher, manchmal, aber nur ganz leise ohne Schuhe, um die Musik nicht zu stören. Lautlos stellen sie sich auf ihren Stuhl, mitunter starren sie die Sänger von Tancredi und Clorinda an. Oder, Gipfel der Verwegenheit, ein Statist berührt einen Sänger, einen Musiker, ja, sogar den Dirigenten. Es wirkt wie eine kindliche Aufforderung zum Spiel, doch an den Reaktionen des mit der heiligen Musik beschäftigten Fachpersonals (hochkarätig: Akademie für Alte Musik, Concerto Vokale und Vocalconsort Berlin) wird deutlich: Geht weg, lasst uns in Ruhe unsere empfindlichen historischen Instrumente streichen und blasen. Polyphonie findet bitte ausschließlich im Notentext statt.

Und das war es schon, was uns Perceval noch mitteilen konnte, seine kleine Botschaft vom großen Scheitern, die Nachricht von seiner Niederlage bei der Schlacht Unter den Linden. Es gibt noch einen bockigen Nachschlag, als im heiligsten Kreis der „Marienvesper“, der Meditation über „Sancta Maria, ora pro nobis“, ein traumlos fahler Schlaf über den menschlichen Weinberg kommt. Und da ist natürlich noch dieser in seiner extremen Überzuckerung nur noch bittere Kitsch des Finales: Clorinda stirbt, das Magnificat jubiliert – und eine nackte Frau schreitet die Stiegen in ätherischer Langsamkeit in den Bühnenhimmel empor. So schmal, so samtig, so makellos erscheint diese Verkörperung der menschliche Seele, so ungeheuer fern von den Leibern, die hier unten im Operngestühl feststecken. Man könnte sich verhöhnt fühlen. Und ist zugleich wie betäubt von Monteverdis großer Kunst.

René Jacobs musikalische Entdeckungen sind längst eine Klasse für sich. Er scheut nicht Mühen noch Wagnisse, wie etwa in seinem experimentell ausgeleuchteten Klangbild für „L’Orfeo“ (Wiederaufnahme am 30.1. an der Staatsoper). Er fördert und führt Sänger wie kein Zweiter (traumhaft: Maria Cristina Kiehr und Stéphane Degout). Und doch muss ihn dieser Abschluss seines Monteverdi-Zyklus unbefriedigt zurücklassen. Sein musikalischer Triumph ist teuer erkauft mit einem Abend, der ehrlicher und konzentrierter rein konzertant erklungen wäre. Kein Erfolg auch für den „Opernerfinder“ Monteverdi, in dessen Namen Jacobs reitet. Tancredi lässt müde den Taktstock sinken. Der Himmel hat sich nicht geöffnet. Nachdem das Publikum seinen Applaus in tranceartiger Freundlichkeit abgegeben hat, löst sich auch Luc Pervecals Menschenbühnenbild wieder auf. Sie ziehen in die Umkleide, die Zwillingsschwestern, die schöne nackte Seele und auch der Kerl mit diesem mausgrauen Anzug – nach 100 Minuten, in denen wir nichts voneinander wussten.

Wieder am 21., 25., 27.1., sowie 1. und 3.2.

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