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Kultur: Sturm im Elfenbeinturm

Mit Mozarts „Idomeneo“ beginnt an der Mailänder Scala die Zeit nach Riccardo Muti

Mailand am 7. Dezember, dem Jahrestag des Stadtheiligen Sankt Ambrosius, das bedeutet: große glitzernde Oper. Plärrendes Volksfest. Höchste Sicherheitsstufe. Wer es nie erlebt hat, glaubt es nicht. Dass man sich ausgerechnet in Italien noch so viel Lärm um (fast) nichts leistet. Und wie virtuos ein einzelnes Theater die Weltbühne beherrscht. Die Scala lebt, wovon viele Opernhäuser träumen. 12 000 elfenbeinfarbene Rosen im Saal, viel Klunker und Pelz auf nicht mehr ganz jugendstraffer Haut, bis zu 2400 Euro pro Eintrittskarte: Zur Eröffnung der Spielzeit 2005/2006 brummt das hohe, heftigst krisengeschüttelte Haus, als sei alles beim Alten. Als hätte es die Affäre um den berüchtigten Stardirigenten Riccardo Muti nie gegeben, keine Intrigen, keine Belegschaftsrevolte, kein Planungschaos, keine Peinlichkeiten, keine finanzielle, politische und ideelle Zerrüttung. Wie schön, eigentlich.

Die Rituale aber trösten und täuschen nicht nur das konservative Publikum über vieles hinweg, und Stéphane Lissner – 52, Marke internationaler Kulturmanager, mit allerlei Festival-Wassern gewaschen (Aix, Wien) und seit Mai der neue Intendant – tut gut daran, dieses Kapital nicht anzutasten. Künstlerisch mag es absehbar gewesen sein, dass die Scala eher früher denn später kollabieren würde. Dafür hat Muti, als Scala-Chef seit 1987 im Amt, seinen persönlichen Eitelkeiten einfach zu schamlos gefrönt. Den Mythos aber, die Verdi-Puccini-Caruso-Toscanini-Callas-Pavarotti- Connection, sie gilt es nach wie vor als Pfund zu begreifen und der Innovation zu überantworten. Der Ruf des Ranzigen mag dem Haus zuletzt zum Verhängnis geworden sein. Unverwechselbar aber, einzigartig, auch: einzigartig grässlich war die Scala deswegen allemal.

Was ihr jetzt drohen könnte, wenn der praktizierende Netzwerker Lissner das ganz große Coproduktionsrad anwirft, ja anwerfen muss, ist eine Art Euro-Normierung. Der späte Einzug jenes gleichgesichtigen, gemäßigten Regietheaterprinzips nämlich, das, absurd genug, andernorts längst ausgedient hat (und schon immer eine Aversion gegen große Musik, große Stimmen hatte). Das Team der diesjährigen „Idomeneo“-Premiere, Luc Bondy und Daniel Harding, dürfte sehr wohl, glaubt man bösen Zungen, für all dies stehen. In der italienischen Presse aber ist von solchen Unkenrufen keine Rede: Sei es, dass man der alten kulinarischen Fettlebe endgültig überdrüssig ist; sei es, dass man das, was sich ästhetisch in den letzten Jahrzehnten nördlich der Alpen zugetragen hat, ohnehin nicht zur Kenntnis nimmt; sei es, dass man Stéphane Lissner, dem Retter aus der Not, der zudem in Windeseile Italienisch gelernt hat, Respekt zollen will. Und in der Tat: Lissners Planung zeigt, dass an der Scala in Zukunft keineswegs nur mit Magermilch gekocht wird. 2006 dirigiert Riccardo Chailly eine neue „Aida“ (Regie: Franco Zeffirelli), 2007 eröffnen Patrice Chéreau und Daniel Barenboim das Haus mit Wagners „Tristan“.

Alles beim Alten also und doch alles neu? Auf der Piazza della Scala steht die berittene Polizei Spalier wie eh und je, während sich drinnen in den Foyers Fußballstars mit dunkelhäutigen Schönheiten garniert ins Kameralicht schmiegen. Und wenn man sich im Saal zur Nationalhymne erhebt und den aus der Königsloge grüßenden Staatspräsidenten beklatscht, dann wird draußen demonstriert, ebenfalls wie eh und je – gegen Pelze, gegen Berlusconi, wen interessiert’s.

Auch das Interesse für die Kunst allerdings hielt sich an diesem Abend in merklichen Grenzen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Einerseits hatte Lissner so gut wie keine Zeit, um nach Mutis schnaubendem Abgang überhaupt so etwas wie eine Saisoneröffnungspremiere 2005 aus dem Boden zu stampfen. Seine Wahl fiel, andererseits und durchaus nachvollziehbar, mit Mozarts „Idomeneo“ auf ein vermeintlich kleines Stück. Junge Stimmen, ein junger ehrgeiziger Dirigent, großzügige Striche (kein Ballett!), ein routinierter Regisseur – so war’s zu schaffen. Und genau so nahm es sich denn auch aus. Choristen im Dreißigerjahre-Look (Kostüme: Rudy Sabounghi) werden von der malerischen Gischt eines barocken Rundhorizontes von der einen auf die andere Bühnenseite gespült, Sandhügel im Vordergrund bieten den barmenden, liebenden, geifernden Protagonisten Halt, das Orakel röhrt aus einer Kiste (Bühne: Erich Wonder), und wenn zum finalen Jubelchor das neue Königspaar inthronisiert wird, dann kracht’s und donnert’s, ziehen schwärzeste Gewitterwolken auf. Die Achtziger lassen grüßen. Theater mit Hang zum Erlesenen. Mehr Haltung aber, mehr Dringlichkeit auch zwischen den Figuren entwickelt Bondy nicht.

Die Sänger wiederum hatten es, weil „klein“ besetzt, stimmlich irre schwer. Einzig Emma Bells Elettra zeigte dramatische Qualitäten, legte viel Ausdruck und fast zu viel Schärfe, Reife, Schmerz in ihr Rachefurien-Porträt. Das restliche Ensemble indes blieb, von einigen schönen Tönen des Idamante (Monica Bacelli) abgesehen, eher blass, bemüht und arg fliegengewichtig (Steve Davislim in der Titelpartie, Camilla Tilling als Ilia). Ganz so muss es Daniel Harding wohl beabsichtigt haben, der im Riesenrund des Raums selbst das größte Versprechen und die maßgeblichste Enttäuschung darstellte. Bei allem akribischen Artikulieren, allen schlüssigen Tempi, allem Wissenwollen: Dieser Mozart hörte sich bisweilen an wie ein Jutesäcklein voller Knöchelchen.

Harding legt dem „Idomeneo“ kaltschnäuzig all jene historischen Seria-Fesseln an, mit denen Mozart 1781 nur mehr liebäugelt, kokettiert, filmisch experimentiert. Das Scala-Orchester folgt ihm darin willig und gut gedrillt, was insofern erstaunt, als es die barocke Rhetorik nun wahrlich nicht mit der Muttermilch eingesogen hat – und der Engländer überhaupt als Dirigent gewordenes Anti-Muti-Programm gelten darf. Klingen, singen, Farben, Körper, Tiefe haben und zu Herzen gehen aber will hier nichts. Gewiss, die Sturmmusiken verbreiten einigen spektakulären Schwefelqualm. Die musikalische Gipsschale aber vermochten nicht einmal die Chöre zu knacken.

Das Publikum dankte am Ende mit gemessenem Applaus. Großrädrige Hüte, apropos, haben in Mailand gerade keine Saison. Weil es ohnehin nichts zu verdecken gegeben hätte? Weil die Italiener Mozart nicht wirklich lieben und sich insofern in ihrer Selbstdarstellungslust zurückhielten? Wen das Schicksal des Kreterkönigs freilich so gar nicht rührte, der konnte sich drei Stunden lang auf das Gala-Dinner im Palazzo Reale freuen. Was sind Gottesgericht und Sohnesopfer, Meeresungeheuer und Seelenstürme schon gegen ein nächtliches Fünf-GangCandlelight-Menü? Dekoriert wurde dieses Jahr übrigens ganz in Weiß. Jungfräulich. Rein. Irgendwie fröstelig.

Christine Lemke–Matwey

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