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Investorengerecht. Auf dem durch die Verlegung der Gleise unter die Erde freiwerdenden Gebiet hinter dem Bahnhof soll ein „urbaner Citystandort“ entstehen, versprechen die Verantwortlichen. Kritiker befürchten fantasielose Blöcke. Foto: dpa

© picture-alliance/ dpa

Stuttgart 21: Die wahren Probleme kommen noch

Die Aufregung wegen des Bahnhofsabrisses in Stuttgart ist groß. Worüber noch nicht so heftig debattiert wird ist die Zukunft der 134 Hektar großen Bahnanlagen, die frei werden.

Wer das Projekt Stuttgart 21 nicht befürwortet, gilt als engstirnig, zukunftsfeindlich und bedroht die Entwicklungschancen einer ganzen Region. Auf diese Überzeugung hatte sich eine breite politische Mehrheit von CDU über FDP bis SPD eingeschworen. Nur die Grünen sind dagegen. Zwei Jahrzehnte lang hatte man um das Projekt auf allen politischen und administrativen Ebenen gerungen. Die Kostensteigerungen von 2,5 auf 4,1 Milliarden hält niemand für gestoppt. Es kann, es muss doch nur Gutes bringen! Und doch werden sich die Vorzeichen vielleicht umkehren.

Der epochal klingende Titel Stuttgart 21 bezeichnet tatsächlich ein Jahrhundertvorhaben. Die Stuttgarter Innenstadt liegt in einem Talkessel. Sein 1846 fahren die Züge von Norden her, wo sich der Kessel zum Neckar öffnet, in die Stadt. Die Gleise enden in einem Kopfbahnhof, dessen Gleis- und Güterbahnhofsareal 100 Hektar Fläche einnehmen.

Kopfbahnhöfe gelten heute als enormes Hemmnis für den modernen Zugverkehr. Zumindest für den Nahverkehr hat man deshalb zwei S-Bahngleise unter die Erde verlegt, die seit 1978 unter Bahnhof und Innenstadt hindurch einen Durchgangsverkehr der S-Bahnlinien von den nördlichen Vororten in die südlichen ermöglichen. Doch nun soll auch das Fernbahnsystem komplett umorientiert werden. Die Fernbahnen sollen ebenfalls den Hauptbahnhof unterirdisch anfahren, allerdings quer zur bisherigen Gleisrichtung. Neue Tunnel sind dazu notwendig, durch die Berge des Talkessels, Richtung Mannheim, hinüber ins Neckartal und hinauf Richtung Flughafen und weiter nach Ulm-München.

Inzwischen haben sich drei Problemfelder aufgetan, von denen zwei in der Öffentlichkeit – spät genug – heiß diskutiert werden. Das erste ist die bahntechnische Planung, das zweite, an dem sich der Bürgerzorn besonders entzündete, der Umgang mit dem Hauptbahnhof, einem Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung. Über die städtebauliche Neuordnung von insgesamt 134 Hektar frei werdenden Bahnanlagen wird hingegen noch nicht sehr kontrovers diskutiert.

Ob der Anschluss Stuttgarts an das internationale Hochgeschwindigkeitsbahnnetz durch Stuttgart 21 optimal erfolgt, darüber entbrennen derzeit immer neue Debatten. Kritische Gutachten wurden offenbar zurückgehalten, neue kommen hinzu, die Zweifel wachsen.

Ist das Bahnkonzept so zukunftsträchtig wie versprochen? Andere Länder erleben einen Eisenbahnboom, wie man ihn nur aus dem 19. Jahrhundert kannte. Was wäre, wenn es auch hierzulande, wo man sich seit Jahrzehnten eisenbahntechnisch voll versorgt fühlt, aus politischen oder ökonomischen Gründen zu einem Paradigmenwechsel des Mobilitätskonzepts käme? Wenn sich die Passagierzahlen, sagen wir verdoppeln würden, weil Autofahren zu teuer, zu unzuverlässig, ökologisch zu unkorrekt geworden wäre? Wenn acht Gleise schon jetzt als zu knapp angesehen werden, um auf Verspätungen und Unvorhergesehenes reagieren zu können – in Zeiten einer Renaissance der Bahn und kräftig steigenden Bedarfs wären die für die nächsten hundert Jahre unterirdisch betonierten Röhren ein grandioses Entwicklungshindernis.

Und was haben die Stuttgarter von Stuttgart 21? A1, das erste, bereits frei geräumte citynahe Planungsgebiet, wird ihnen als „urbaner Citystandort“ verkauft, „attraktive und lebendige Innenstadt“ nach dem Leitbild der „europäischen Stadt“. Erste Planungen und Modelle lassen freilich Schlimmstes befürchten. Getrieben von Vermarktungszwängen werden die Flächen fantasielos in investorengerechte Blöcke aufgeteilt. Was bislang entstand und in naher Zukunft droht, ist das Übliche, ein Büroquartier, in das sich kein Passant verirrt, wozu auch. Aufenthaltsqualität null, abends ist tote Hose.

Der versprochene Wohnflächenanteil von 20 Prozent gehört längst ins Reich der Märchen. Für eine lebendige Stadt bedarf es kleinteiligerer Parzellierung und Nutzungsmischung, eine altbekannte Grundregel des Städtebaus und immer wieder so überraschend für die Stadtväter und Flächenvermarkter. Mit Gebäudekolossen von 17 000 Quadratmetern Nutzfläche bedient man die wirtschaftlichen Interessen der Investoren, nicht die der Stadtbewohner.

Auch stadtgestalterisch hat man die Chance gründlich verspielt, einen Stadtteil mit eigenem Gesicht zu gestalten, der nicht am Stadtrand von Madrid, Warschau oder Birmingham in ähnlicher Form anzutreffen wäre.

Bleibt der Bahnhof selbst, für den sich der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven eine unterirdische Querbahnsteighalle mit begrüntem Dach ausgedacht hat. Dass er dafür den Seitenflügel des historischen Bahnhofs von Paul Bonatz abreißen will (andere Wettbewerbsarbeiten haben bewiesen, dass dies nicht notwendig wäre), hat die Stuttgart 21 Skeptiker und Bürger aus allen Schichten endgültig auf die Barrikaden getrieben. Ingenhoven selbst bringt für die Proteste kein Verständnis auf. Naturgemäß redet er pro domo, protegiert das Projekt seines Lebens. Er und die Verantwortlichen in Landesregierung und Bahnvorstand haben nicht begriffen, dass sie mit einer Umplanung des Bahnhofs ohne Verstümmelung des denkmalgeschützten Bahnhofs viele Gemüter beruhigen könnten.

Der eben begonnene Abriss des Nordflügels hat für die Stuttgart-21-Gegner Symbolcharakter. Wenn es den Grünen in der Opposition gelingt, die Proteste am Köcheln zu halten, ist damit das Schicksal der Landesregierung, deren Zustimmungsrate ohnehin rapide abnimmt, besiegelt. Das Großprojekt selbst ist wohl rechtlich und politisch nicht mehr aufzuhalten.

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