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Erhabene Größe, trauliche Idylle. Durchblick zu den Arkaden des Stuttgarter Bahnhofs (1911–27).

© DAM

Stuttgarter Bahnhof: Gleisanschluss Babylon

War der Architekt des Stuttgarter Bahnhofs Nazi oder nur Opportunist? Eine Revision des Werkes von Paul Bonatz in Frankfurt.

Die Worte sind deutlich, wenn auch versteckt im Kleingedruckten: „Die Flügel sind funktional ein Teil des Organismus Bahnhof, ihr Abbruch zerstört die architektonische Komposition, der Bahnhof wird zum amputierten Krüppel“, heißt es auf einer Wandtafel zum Stuttgarter Hauptbahnhof – ziemlich weit unten. Der Katalog wird noch deutlicher: „Uns ist kein anderer Fall bekannt, in dem die Zerstörung eines Baudenkmals maßgeblich dazu beitrug, dass sich so eine vehemente Protestbewegung entwickelte.“ Das Team des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt war bemüht, die aktuellen Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 aus der Ausstellung herauszuhalten – wohl wissend, dass es genau diese Auseinandersetzungen sind, die ihnen nun erhöhte Aufmerksamkeit bescheren.

In der Tat: Wer kannte noch vor einem Jahr den Architekten Paul Bonatz und sein Werk? Nur Spezialisten. „Doch im Sommer und Herbst 2010 haben die meisten seinen wichtigsten Bau mehr als einmal in der Tagesschau gesehen“, weiß auch Ausstellungskurator Wolfgang Voigt. Als man 2003 den Plan zur Ausstellung fasste und 2006 mit der Vorbereitung begann, war das noch nicht absehbar. Im Gegenteil: Das Vorhaben, einen verdienstvollen, aber vergessenen Architekten der Frühmoderne aus der Versenkung zu holen, in einer Reihe mit Hannes Meyer, Heinrich Tessenow, Paul Schmitthenner, Dominikus Böhm und Martin Elsaesser, traf auf Schwierigkeiten: Ein Großteil des Werksarchivs war im Krieg zerstört, ein Oeuvre-Verzeichnis nicht vorhanden. Zudem ist Bonatz, Mitbegründer der Stuttgarter Schule, der mit seinem Naturstein-Monumentalismus vage im Verdacht des NS-Mitläufertums stand, alles andere als populär. Und doch: Wäre diese Ausstellung früher gekommen, wäre die Diskussion um „Stuttgart 21“ anders verlaufen.

Denn an der ästhetischen Qualität des Bahnhofs entzündet sich nicht zuletzt die Frage um seinen Erhaltungswert. Dass es sich bei dem 1914–1928 errichteten Bau um ein herausragendes Beispiel der Bahnhofsarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts handelt, belegt nicht nur die Tatsache, dass die Spielzeugfirma Maerklin den Stuttgarter Bahnhof wenige Jahre später als Prototypen anbot – in einer Groß- und Kleinversion. Doch dass der Bahnhof, der mit seiner wuchtigen Steinfassade, der monumentalen Halle und dem massiven Turm heute eher als präfaschistische Altlast angesehen wird, in Wahrheit ein großer Schritt in Richtung Moderne bedeutete, muss erst wieder herausgearbeitet werden. Zu seiner Zeit, den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, war er durchaus innovativ: Nicht umsonst stellte Henry-Russell Hitchcock, der später den Begriff vom „International Style“ prägte, den Stuttgarter Bau über alle Bauten des heute weit weniger umstrittenen Peter Behrens. Doch dass Paul Bonatz früh schon Kritik an der Weißenhof-Siedlung äußerte, hat ihn auf immer zum Antimodernen gestempelt.

Hier will die Ausstellung aufklären und ein historisches Missverständnis revidieren. Der Aufbau des Bahnhofs aus kubischen Blöcken, die Flachdächer, die ingenieurtechnisch ingeniöse Raumlösung, all das weist, wenn nicht in der äußeren Erscheinungsform, so doch im formalen Verständnis in die Moderne, erklärt Wolfgang Voigt. Nicht umsonst wirbt die Stadt Stuttgart auf einem Plakat aus den Zwanzigerjahren mit der Mies’schen Wohnzeile aus der Weißenhof-Siedlung, dem ersten Hochhaus, dem Zeppelinbau – und dem Bahnhof unter dem Motto „Die aufblühende Stadt“.

Der mit seinen Steinquadern heute im Verdacht „völkischen Bauens“ stehende Bahnhof ist im Gegenteil stark von französischen und orientalischen Einflüssen geprägt und wurde dafür in seiner Entstehungszeit angegriffen. So hat Bonatz sich durch eine Ägyptenreise 1913 zu Umplanungen inspirieren lassen und die wuchtigen Eingangsnischen dem Innenhof der Sultan-Hassan-Moschee in Kairo entlehnt. Der Turm erinnerte in einer früheren Form an Robert Koldeweys Rekonstruktionen in Babylon. 1918, nach dem verlorenen Weltkrieg, als nationales Bauen angesagt war, war das kaum populär.

Paul Bonatz 1937 in seinem Allgäuer Sommerhaus in Kornau (unten).
Paul Bonatz 1937 in seinem Allgäuer Sommerhaus in Kornau (unten).

© DAM

Und doch, die Gretchenfrage bleibt: Wie hielt Bonatz es mit dem Nationalsozialismus? Dass der 1877 im Elsass geborene Architekt drei Systemwechsel erlebt und überstanden hat, ohne in seiner Tätigkeit wesentlich eingeschränkt gewesen zu sein, zeugt zumindest von Anpassungsfähigkeit. Doch wie konnte ein Kosmopolit, der 1918 in Stuttgart im Arbeiter- und Soldatenrat aktiv war und noch 1932 einen jüdischen Assistenten gegen die Anwürfe nationalsozialistischer Kollegen verteidigt hatte, zu Hitlers Chef-Autobahnbrückenbauer werden und ab 1939 an Albert Speers Planungen zu Groß-Berlin mitarbeiten? Ist das späte Exil, das Bonatz 1944 in der Türkei wählt, tatsächlich Widerstand oder nur Flucht vor einem absehbaren Kriegsende?

Die Sache ist komplex und gerade deshalb spannend. Bonatz war kein Nazi, war nach 1933 erst einmal nicht wohlgelitten – eine unbedachte Äußerung in Basel, Hitler habe das Land um hundert Jahre zurückgeworfen, trägt ihm Denunziation und Verhöre bei der Gestapo ein. Auch sein Versuch, den Nationalsozialisten einen nüchternen, konstruktiven Baustil anzubieten, findet bei dem auf monumentale Wirkung, Repräsentation und Klassizismus fixierten Hitler keine Gnade. Die ingenieurtechnisch herausragenden Brücken und Neckarstaustufen, mit denen sich Bonatz die Dreißigerjahre über beschäftigt – waren sie eher Notbehelf als Karrieresprung? Und war die spätere Zusammenarbeit mit Speer, der monströse Entwurf für das Oberkommando der Kriegsmarine in Berlin, die Planung einer Riesenkuppel für den Münchner Hauptbahnhof nur der Sehnsucht nach Bauaufgaben geschuldet? 1936 fällt in einem Brief an einen Freund der verräterische Satz: „Für unsereinen gibt es nur eine Sache, deretwegen wir alles bisherige preisgeben: das sind die Aufgaben.“

Ein Opportunist also? Da mag sich Bonatz 1944 in der Türkei in seinem Tagebuch in Hasstiraden gegen Hitlerdeutschland ergehen und auf seinen Entwurfszeichungen verschlüsselte Selbstkritik üben, da mag er nach dem Krieg ehemaligen Kollegen wie Speers Mitarbeiter Rudolf Wolters den erbetenen Freibrief zur Entnazifizierung verweigern. Wolters rächt sich mit einer vergifteten Gratulation zum 70. Geburtstag, in der er Bonatz an die vergangene Zusammenarbeit erinnert: „Warst doch auch in unserer Mitte.“ Sein Verhältnis zu anderen Exilanten bleibt gespalten. Es bleibt eine kühne, unbelegte Annahme in einer Bildunterschrift im Katalog, dass das bei einer Lagebesprechung im Büro Bonatz 1939 deutlich im Hintergrund zu erkennende Hitler-Porträt extra für den Fotografen angebracht worden sei, „um Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit von Paul Bonatz zu zerstreuen“.

Vielleicht kommt man Bonatz doch eher über seine Bauten als über sein Verhalten nahe. Modern oder konservativ, das bleibt die Frage. Die Antwort lautet leider: sowohl als auch. Bonatz ist nie Verfechter eines einzelnen Stils, wie es etwa die Bauhaus-Architekten waren, sondern plädiert für jeweils der Umgebung und den Bauaufgaben angepasste Lösungen. Also eine in rotem Sandstein verkleidete Neckarstaustufe unterhalb des Heidelberger Schlosses und eine kühn in Beton gegossene in der Ebene bei Feudenheim. Eine in wuchtigem Naturstein ausgeführte Autobahnbrücke über das Lahntal und eine europaweit Furore machende Stahlhängebrücke in Köln-Rodenkirchen. Repräsentative, an Muthesius und der Arts-and-Crafts-Bewegung geschulte Villen und eine funktionale Wohnsiedlung in Ankara. Das ganz auf Steinwirkung setzende Kunstmuseum in Basel und das sichtbar als Betonskelett entworfene Rathaus in Kornwestheim. Ein in seiner Vielfalt faszinierendes Oeuvre, das es nun in Frankfurt wiederzuentdecken gilt.

Kurz vor seinem Tod hat sich Paul Bonatz, der 1954 nach Stuttgart zurückkehrt, noch vehement gegen den Abriss des Neuen Schlosses und für die Erhaltung des Schlossplatzes als „grünen Stadtplatz“ eingesetzt. Auf welcher Seite er im aktuellen Streit stände, ist unschwer zu ahnen.

DAM Frankfurt, bis 20. März, danach Kunsthalle Tübingen. Katalog (Ernst Wasmuth Verlag) 35 Euro, im Buchhandel 49,80 Euro.

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