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Suhrkamp, FU, Literatur: Lava aus dem Turm

Wie märchenhaft ist die Welt, in der wir leben? Uwes Tellkamps FU-Vorlesung „Botenstoffe“.

Als der Schriftsteller Uwe Tellkamp an diesem windig-schönen Frühsommerabend im FU-Hörsaal 1a der Rostlaube seine Vorlesung beginnt, schickt er zunächst vorweg, dass er „nur von Dingen reden will, von denen ich was verstehe“. Und er sagt, worüber er alles nicht reden wird: über die Piraten, über das Grass-Gedicht – und auch nicht über Hormone, „falls hier Ärzte unter den Zuhörern sein sollten“. Seine Vorlesung heißt nämlich „Botenstoffe“. Als solche werden in der Medizin die Hormone bezeichnet, die im Körper des Menschens für die Übertragung von Signalen und Informationen sorgen. Die Botenstoffe, um die es Tellkamp geht, sind antike Mythen und insbesondere Märchen und deren Einfluss auf die Gegenwartsliteratur, insbesondere seine eigene Literatur, aber auch auf „die Erzählung der Welt“: „Gegenwart sollte man nicht mit Aktualität gleichsetzen.“

Tatsächlich sollen Aktualitäten in dieser Vorlesungsreihe, die die FU zusammen mit dem Suhrkamp Verlag von nun an immer im Sommersemester veranstalten will, nicht zwingend im Vordergrund stehen. Eher schon das große Ganze: „die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft“, nach dem Verhältnis „zwischen Literatur und Politik oder Zeitgeschichte“ zum Beispiel. Bei aller Freiheit, die die vortragenden Autoren und Autorinnen in der Wahl ihrer Sujets genießen dürfen, türmen sich in dieser Reihe also einige Vorgaben für die Vorleser auf. Selbst für einen Uwe Tellkamp, der seine Aufgabe als Schriftsteller nie zu klein ansetzt: „Zeit ist die Krankheit, der Dichter ihr Arzt“, hat er 2007 in seinen Leipziger Poetikvorlesungen gesagt.

Ihrer Natur gemäß möchte auch Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz die Latte nicht zu niedrig legen. Sie ergreift zur Premiere der nach Siegfried Unseld benannten Vorlesungsreihe noch vor Uwe Tellkamp das Wort und erinnert an den 2002 verstorbenen Überverleger und wie dieser aus seinem „Selbsterleben die Literatur zur Weltmacht“ erklärt hat. Unseld-Berkéwicz sieht die Welt gerade auf einer steil absteigenden Linie, „Gott- Mensch-Schlumpf“ – und bringt einmal mehr die Poesie und den Roman in Stellung gegen die aktuelle Unbill der Welt, gegen „die Fragwürdigkeit der Wirklichkeit“, gegen Kapitalismus, Finanzkrisen etc:  „Jetzt baumelt unsere Seele lang und bang, bis das Rettende wiederkehrt.“ Die Rettung ist bei solchen Sätzen erst einmal Uwe Tellkamp. Dessen Vortrag ist dagegen in weiten Teilen wohltuend konturiert und bodenständig. Tellkamp gesteht, beim Schreiben nie zu wissen, wie die Welt aussieht, die er literarisch erschaffen will. Neu und unberührt sei diese Welt, „und wenn ich sie dann berühre, nehme ich sie mit allen Sinnen auf.“ Dann fragt er: „Wie real sind Märchen? Wie märchenhaft ist die reale Welt?“ Und antwortet: „Märchen sind Echos eines vorgeburtlichen Staunens.“

Tellkamp erklärt es als Anmaßung, als Schriftsteller heutzutage noch eine Gesamtdarstellung der Welt abgeben zu wollen. Dafür sei diese inzwischen viel zu komplex. Was bei ihm und seiner Zeitobsession allerdings merkwürdig kokett klingt. Er erzählt, dass er eine Art Fortsetzung seines Erfolgsromans „Der Turm“ schreibt (Arbeitstitel „Lava“), der kurz nach dem Mauerfall einsetzen und bis zur Jahrhundertwende reichen soll. Und dass in einer literarischen Arbeit, einem Roman zumal, alle Dinge miteinander in Beziehung stehen müssen. Wenn dem nicht so wäre, wenn es gewissermaßen „autistische Bezirke“ gebe, „würde ich lange drüber nachdenken“.

Tellkamp gewährt Einblicke in seine Schreibwerkstatt. Dabei wird deutlich, dass die Zeitenwende 89/90 auch in Zukunft sein wichtigster Botenstoff ist. Bizarr wird es erst, als er, ausgehend von der „Kohleninsel“ aus dem „Turm“-Roman, seiner kafkaesken Stasi-Behörde, eine Art Behörden- und Bürokratie-Poetologie erstellt. Diese illustriert Tellkamp mit zoologischen Schaubildern des Philosophen und Evolutionsforschers Ernst Haeckel, und aus seinem raffiniert gestalteten Redestrom ragen plötzlich bonmots hervor wie „Das Wissen von gestern, die Macht von heute“ oder „Man muss sich nicht zu jeder Kacke äußern, die da gerade dampft“. Uwe Tellkamp, das wird am Ende deutlich, ist schon eine sehr spezielle Klasse für sich.

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