zum Hauptinhalt

Surrealismus-Ausstellung: Zweckfreies Spiel des Denkens. Sezierte Körper. Surrealistische Objekte

Die Frankfurter Schirn-Kunsthalle schlägt ein neues Kapitel der Kunstgeschichte auf: Zum ersten Mal werden surrealistische Objekte so umfangreich gezeigt wie in der aktuellen Ausstellung "Surreale Dinge". Wahnsinnsideen werden greifbare Wirklichkeit

Surreal kommt einem vieles vor, was in diesen Wochen die Nachrichten beherrscht. Die Bilder aus Japan etwa schienen einer anderen Wirklichkeit zu entstammen und waren doch wahr. Surreal – diesen Begriff hat die Kunst der Welt beschert, um eigentlich nicht miteinander zu vereinbarende Tatsachen zumindest semantisch zu verbinden und sie dadurch zunächst sprachlich fassbar zu machen. Die konkrete Vorstellung, die Verarbeitung folgt erst im zweiten Schritt.

Ob Schrecken oder Spaß – die Surrealisten verfolgten durchaus aufklärerische Absichten mit der Kombination verschiedener Zeitebenen und Gegenstände. „Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen“, schrieb André Breton 1924 im „Ersten Manifest des Surrealismus“.

Wie harmlos, wie spielerisch das klingt angesichts der Bedeutungsmacht, die ein Dreivierteljahrhundert später die Bezeichnung „surreal“ im Zusammenhang mit den Aufnahmen aus dem Kraftwerk in Fukushima gewinnt. Doch es lohnt, sich der Anfänge zu erinnern, als Breton und seine Bande noch mit Kunst den Glauben an das Sichtbare zu torpedieren suchten. Ihre Werke wirkten damals schockierend, frech, provokant. Während ihre Gemälde heute in Klassiker-Sphären entschwebt sind, hat sich die Objektkunst eine Frische bewahrt, deren böser Witz in so manch aktueller Installation wiederkehrt. Groß gewürdigt wurde sie allerdings noch nicht; die Malerei dominiert das Feld.

Bei Anruf Hummer, zum Frühstück ein blaues Baguette – Dalís Telefon mit dem Krustentier als Hörer oder Man Rays eingefärbtes Brot schienen von ihrer Bedeutung bislang nur „conversation pieces“ zu sein. So steht es jedenfalls auf der Wählscheibe des Hummertelefons. Doch das hat sich mit der Ausstellung „Surreale Dinge“ in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle gründlich geändert. 180 Werke von 51 Künstlern hat Kuratorin Ingrid Pfeiffer zusammengetragen und damit ein Unterkapitel der Kunstgeschichte aufgeschlagen. Nie zuvor wurden die dreidimensionalen Surrealisten-Objekten so umfangreich gezeigt.

Die letzten Ausstellungen vor rund 40 Jahren organisierten die Surrealisten noch selbst, bevor sich deren Untergruppierungen endgültig auflösten. Ähnlich wie die einstigen Dada-Messen der Zwanziger sind sie heute Legende, allein durch Beschreibungen verblüffter Zeitgenossen und Fotografien überliefert. So auch jene verrückte Schau 1938 in der Pariser Galerie des Beaux-Arts, bei der Dalís „Regentaxi“ mit pitschnasser Schaufensterpuppe als Fahrgast im Vorhof stand. Vorbei an einer Phalanx fantastisch drapierter Mannequins gelangte der Besucher sodann in den von Duchamp grottenartig dekorierten Hauptraum: Kohlensäcke, aus denen es schwärzlich rieselte, hingen unter der Decke, Laub bedeckte den Boden. Aus Lautsprechern ertönte mal hysterisches Gelächter, mal das Geräusch marschierender Soldaten; frisch gerösteter Kaffee verbreitete seinen Duft.

An diese Tradition der erlebnisstarken Inszenierung knüpft auch die Frankfurter Ausstellung an: wenig geglückt im Entree mit einer Gestaltung durch die Künstlergruppe et al., die im Aufgang Schaufensterpuppen arrangierte, umso gelungener im Schauraum selbst die tiefroten Samttapeten, vor denen schwere dunkle Möbel stehen. Die darauf platzierten Exponate entfalten umso mehr ihren feinen Horror, das sanfte Gruseln als „Objekte, denen man nur in Träumen begegnet“, wie Breton es 1925 formulierte.

Doch keine Albtraumwelt, keine Schreckenskammer eröffnet sich hier, sondern ein Boudoir mit seltsamen Requisiten zur Animation der Fantasie: Dalís Metronom mit fotografiertem Auge am Taktzähler, Man Rays Bügeleisen, dessen Bodenfläche mit Nägeln gespickt ist, Marcel Mariens Brille, die aus einem einzigen Glas besteht, Meret Oppenheims Handschuhe, deren zarte Stickerei dem Lauf der Adern folgt, Hans Bellmers Kreisel, der aus gipsernen Brüsten gebaut ist. Die Surrealisten waren nicht die ersten, die alles Erreichbare ihrer Kunst einverleibten, sich vor allem auf Flohmärkten bedienten. Das machten ihnen bereits die Dadaisten mit ihren weitaus politischeren Objekten vor, die Spießertum und Krieg anprangerten. Breton, Dalí, Duchamp wollten die Objekte nicht nur ihrer Funktion entledigen, sondern auch in eine neue Dimension vorstoßen.

„Das surrealistische Objekt ist ein vom praktischen und rationalen Standpunkt aus absolut nutzloser Gegenstand, einzig zu dem Zweck geschaffen, Wahnsinnsideen und -fantasien auf fetischistische Art mit einem Maximum greifbarer Wirklichkeit zu materialisieren“, erklärte Breton. Wegbegleiter waren den Surrealisten Freud und de Sade. Deren Schriften setzten sie in konkrete Bilder um, was dem Begründer der Psychoanalyse jedoch kaum behagte. In ihren Werken wurde der weibliche Körper seziert, neu kombiniert, ja zum Möbel verwandelt, wie bei Kurt Seligmanns Hocker, dessen vier Beine eindeutig weiblich sind.

Doch auch die Künstlerinnen beteiligten sich an diesem Spiel. Mimi Parent schuf aus zwei geflochtenen Blondzöpfen eine Peitsche mit ledernem Griff, die sie „Maitresse“ nannte. Meret Oppenheim steckte zwei Frauenhände mit grellrotem Nagellack in Fellhandschuhe ohne Fingerspitzen – das Tier im Weib zeigt seine Krallen. Doch nicht immer entsprachen die Damen den Wünschen der Herren Surrealisten: Als Leonora Carrington 1959 aufgefordert wurde, sich an der Surrealistenausstellung in der Galerie Cordier zu beteiligen, die sich dem Eros widmete, empfahl die Gefährtin von Max Ernst nur spöttisch einen „Heiligen Geist“ bauen zu lassen: „drei Meter hoch, mit echten Federn … mit neun erigierten Schwänzen (leuchtend), neununddreißig Hoden, die wie kleine Weihnachtsglöckchen klingen und rosa Pfötchen“. Prompt druckte Breton ihren Brief im Katalog.

Überhaupt sind die Künstlerinnen stark vertreten in der Frankfurter Ausstellung. Für sie stellte sich die Objektkunst als Terrain dar, das noch nicht vollends männlich besetzt war. Zugleich steckten sie wieder in der Falle, denn hier nähten, klebten, bastelten sie erneut. Meret Oppenheim, „das Meretlein“, wie Max Ernst sie spöttisch nannte, erfand zwar das wohl bekannteste surreale Objekt, eine mit Pelz bezogene Tasse, doch kurz darauf zog sie sich vom Männerbund zurück und suchte ihre eigene Realität.

Schirn-Kunsthalle, Frankfurt/Main, bis 29. Mai; Katalog (HatjeCantz) 34,80 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false