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Kultur: "Surrogat": Die Berliner Rock-Band will beides: Erfolg und Authentizität

Gib mir alles. Gib mir 30.

Gib mir alles. Gib mir 30.000 Feuerzeuge mit dem Bandlogo drauf. Klebe-Tattoos. Limitierte T-Shirts für die "Medienpartner". Eine Aussendung von 20 000 Fan-CDs, auf denen einige Songs angespielt werden. Autogrammstunden. Interviews mit "Popcorn" und RTL2. Plakate an den Bushaltestellen in Kreuzberg und Offenbach. Rock am Ring. Werbespots für die neue Platte im Musikfernsehen. Eine Freifahrt im Classic Porsche vom Ärzte-Manager Axel Schulz zu den Vertragsverhandlungen in Hamburg.

Surrogat haben sich entschieden, zu allem, was die Trickkiste der Musikindustrie hergibt, Ja zu sagen. Sie haben unterschrieben. Der Branchenriese Motor Music hat ihre vier Monate alte Platte "Rock" vom Kleinlabel Kitty-Yo lizensiert und dieser Tage mit einem dicken Marketingetat im Rücken noch einmal veröffentlicht. Die Single-Auskopplung "Gib mir alles" markiert den Deal mit Motor Music. In diesem Song sprechen Surrogat vom Wunsch nach Reichtum und Privilegien und erteilen diesem Wunsch zugleich eine deutliche Absage. "Gib mir alles - muss zerstört werden." Es war ein langer Weg für Patrick Wagner, Tilo Schurz-Crusius und Mai Linh bis zur Entscheidung, sich in die Obhut der Musikindustrie zu begeben. Drei Jahre war es still gewesen um die Band. Die erste Platte nach so langer Zeit sollte das große Statement werden über Berlin, das Leben und die Liebe, jenseits von kommerziellen Überlegungen.

25 000 Mark hatten die drei Bandmitglieder zusammengekratzt, um "Rock" gemeinsamen mit dem Hamburger Produzenten Tobias Levin in Frankreich aufzunehmen. Geld, das sie zu jenen Zeitpunkt eigentlich gar nicht hatten. Sänger und Gitarrist Wagner nahm für seine ehrgeizigen Ziele sogar den Rauswurf aus seiner Wohnung in Kauf - acht Monate Mietrückstand waren für die gutmütigste Hausverwaltung zu viel. Dem Ergebnis dieser Selbstausbeutung war ein Wille zur Größe anzuhören und zugleich der Druck und die Anspannung, von denen die Aufnahmen bestimmt waren. "Rock" ist ein sprödes, ungestümes Gebilde. Ein säbelnder Bass, eine klirrende Gitarre, ein massives Schlagzeug. 33 Minuten energisch durchstrukturierter Krach ohne einen einzigen Viervierteltakt. Geschriene und gesprochene Texte, die pathetisch das Lebensgefühl ihres Freundeskreises abbilden. Das Lebensgefühl einer Generation, die mit wenig Geld in der Tasche die Freiräume der offenen Nachwendestadt besetzte und sich um den Rosenthaler Platz herum häuslich einrichtete.

Songs wie "Berlin liebt dich" und "Seid ihr mit mir" erzählen von den Möglichkeiten und den Grenzen dieser Situation, vom Zusammengehörigkeitsgefühl, von der Euphorie und vom Frust. "Rock" handelt davon, um drei Uhr morgens an der Dönerbude die letzten zwei Mark fünfzig in eine Dose Bier zu investieren und sich wie ein Held zu fühlen, aber auch davon, einen anderen Menschen zu lieben und nicht fähig zu sein, es mitzuteilen. Zugleich beschwören Surrogat durch die Covergestaltung Rockmusik als authentischen, gruppendynamischen Ausdruck der eigenen Zustände, sie formulieren eine Absage an diskursiv gebrochene Formen von Popmusik. Angetrieben von der forschen Selbstvermarktung Patrick Wagners, der als sein eigener Manager, Promoter und Labelboss auftrat, verursachte diese Konstellation einen Wirbel, der in keinem Verhältnis zur schwer zugänglichen Musik der Band stand und sich schnell in die Bereich das klassischen Feuilletons ausbreitete. "Zeit", "Süddeutsche Zeitung", das ZDF-Kulturprogramm "aspekte" - auf einmal wollten sie alle wissen, wer Surrogat sind. Das gewaltige Medieninteresse ließ die kleine Firma Kitty-Yo an die Grenzen ihrer Kapazitäten stoßen. Die Strukturen des kleinen Büros in der Rosenthaler Straße verhinderten die Ummünzung der breiten Berichterstattung in Verkaufszahlen: Die Anbindung an einen unabhängigen Vertrieb versperrte Surrogat den Weg in die Ausstellflächen der großen Elektronik- und Tonträgermärkte. 6 000 Exemplare von "Rock" wurden bisher verkauft. Zu wenig für Patrick Wagner: "Ich will mit dieser Band Geld verdienen. Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht."

Wir wollen Geld verdienen

Die Entscheidung, sich auf die Marketing- und Vertriebskräfte eines Entertainmentkonzerns einzulassen und damit die kaufmännische Seite der Kunst aus der Hand zu geben, sei deshalb ebenso schwer wiegend wie folgerichtig gewesen: "Es ging mir noch nie darum, die Fahne der Unabhängigkeit hoch zu halten. Es ging mir immer um effektive Arbeitsweisen, um ein gutes Gefühl bei der Zusammenarbeit. Auch als kleine Plattenfirma ist man nie wirklich unabhängig." Inzwischen ist dieses gute Gefühl der Zusammenarbeit durch den äußeren Druck erloren gegangen und Kräfte zehrenden Spannungen gewichen. Seit der Entscheidung für Motor habe sich das Klima bei Kitty-Yo wieder gebessert. Und was das Marktpotenzial betreffe, sei man bei Motor durchaus realistisch. Surrogat sind eben nicht die Toten Hosen und auch nicht Rammstein.

Surrogat werden sich weiterhin um ganz andere Fragen kümmern: "Wir werden uns nicht ändern. Damit wir richtig erfolgreich werden, muss sich der Mainstream ändern. Da gibt es kein dazwischen."

Surrogat haben sich mit den Verhältnissen des Marktes arrangiert. Der verantwortliche Produkt-Manager bei Motor Music würde vermutlich von einer Win-Win-Situation sprechen. Zumindest wird sich Patrick Wagner in Zukunft nicht mehr so oft mir Zahlen auseinander setzen müssen. Er kann dafür Musik machen. Wie die zu ihren Hörern kommt, darum kümmern sich jetzt andere. Neue Bezugsgruppen werden hinzu kommen: "Ich bin von der Idee begeistert, dass sich ein Fan der Toten Hosen unsere Platte kauft", sagt Wagner. "Dann ist er nämlich ziemlich verwirrt, zumindest für einen Moment. Das ist unsere Chance, und die wollen wir ergreifen."

Heiko Zwirner

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