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Kultur: Symphonie einer Großstadt

Bis zum Krieg lag am Potsdamer Platz das Berliner Musikviertel. Mit dem Meistersaal schließt nun das letzte Relikt dieser Ära

Der Silvestertag, wo Gegenwart und Vergangenheit besonders dicht beieinander liegen, ist ein guter Tag für Spurensucher – vor allem dann, wenn die Stimmung nicht zum lauten Feiern animiert. An diesem stahlblau strahlenden letzten Vormittag des Jahres, wo Scharouns Philharmonie sich gelber als sonst in der Aufbruchslaune des neuen Chef- und Silvesterdirigenten Simon Rattle sonnen darf, ruft uns die leisere Stimme der Vergangenheit auf die andere Seite des Potsdamer Platzes: in das alte Musikviertel Berlins. Der Touristenstrom versandet, ehe er den mahnenden Torbogen zur zerstörten Alten Philharmonie in der Bernburger Straße erreicht. Und hier, in der Köthener Straße, wo Kreuzbergs Sozialpaläste bezugsfertigen kubischen Neubauten stumm in die Augen schauen, gibt heute der Veranstalter des letzten historischen Konzertsals im einstigen Musikerviertels die Schlüssel aus der Hand.

Seit 1994 war der Schauspieler und Regisseur Kurt Lutz Herr des historischen „Meistersaals“ in der Köthener Straße 38. Doch nach acht Jahren unsubventionierten Konzert-, Theater-, Ausstellungs- und Kleinkunstbetriebs haben ihn die Schulden der Anfangszeit eingeholt. Auf den roten Läufern des Treppenhauses führt uns der Mittfünfziger mit der ledernen Schiebermütze leichten Schrittes hinauf, in den Spiegeln sieht man Umzugsgerät, doch die Stuhlreihen im Saal, der dem Haus den Namen gab, blicken ungestört zur Bühne. Die Augen wandern zur prachtvollen Kassettendecke, von der die schmalen Kronleuchter mit ihren kugelförmigen Lampenschirmen wie goldene Anker im schräg einfallenden Sonnenlicht schweben. Die Ohren aber verfolgen den klackernden Klang der gewienerten Impresarioschuhe auf dem Parkett – klar und nachhallarm sind die Schritte zu hören. Die Akustik reicht tadellos bis in die letzte Ecke des holzgetäfelten Raums.

Auf den Meistersaal wurde Kurt Lutz aufmerksam gemacht, als er mit seinem alten Theater, dem Berliner Globe Theatre im Esplanade der Neubebauung des Potsdamer Platzes weichen musste. „Ich stellte gleich fest, dass das natürlich ein Musiksaal ist und kein Theater“, erinnert sich der Veranstalter. Aber die Liebe zu dem Ort war entbrannt, der Plan zu einem Veranstaltungsort für Kammermusik, aber auch für kleine Szenen und Stücke mit Bezug zur Musik wie Patrick Süskinds Monolog „Der Kontrabass“ wurde in die Tat umgesetzt. Lutz gab seine Wohnung auf und zog selbst in das Gebäude, dessen Gegenwart und Geschichte ihn immer mehr in Bann ziehen sollte.

Im liebevoll restaurierten „Grünen Salon“, der kleinen Gastronomie neben dem großen Veranstaltungssaal, lässt Kurt Lutz mit rauchiger Schauspielerstimmer bei einer Flasche Weißwein, Abfüllung „Meistersaal“, die Historie des Orts wiederauferstehen. Einige Umzugshelfer verpacken derweil diskret Gläser in Kartons. 1913, so erfahren wir, entstand der Meistersaal als Verbandshaus der Baugeschäfte von Groß-Berlin. Dass man das vom Architekturbüro Giesede & Menzle entworfene repräsentative Gebäude mit einem Saal für öffentliche Konzerte ausstattete, war damals nichts Ungewöhnliches: „eine Art Sponsoring“, wie Lutz sagt. Auch die anderen, längst im Bombenhagel versunkenen Konzertsäle der Nachbarschaft, auf die Lutz mit luftigen Gesten weist, verdankten ihre Existenz vor allem dem damals üblichen Einsatz von Verbänden, Mäzenen, Instrumentenfabrikanten: der Bechsteinsaal in der Linkstraße ebenso wie der Brahms- und Blüthnersaal in der Lützowstraße und der Beethovensaal nebenan.

Das Viertel versinkt im Bombenhagel

Die Aura des Meistersaals beruhte jedoch nicht allein auf den großen Musikern wie Dietrich Fischer-Dieskau oder Hans Pischner, die hier debütierten. In dem Haus waren in den Zwanzigerjahren zugleich die wichtigsten Berliner Literaten und Künstler zu Gast: 1923 bis 1925 beherbergte das Haus im Erdgeschoss, dort, wo sich heute ein italienisches Restaurant befindet, den Malik-Verlag von Jean Heartfield und Wieland Herzfelde mit angeschlossener Galerie von George Grosz. Die Vermieter wollten die linken Dadaisten möglichst bald wieder loswerden, doch auf alten Fotografien kann man noch sehen, wie sich die Menschen vor den Schaufenstern drängten – und sei es auch nur, um die neuartigen beweglichen Bücherregale zu bestaunen, deren Mechanik Lutz mit kurbelnden Bewegungen beschwört. Dass der Geist des einstigen Potsdamer Platzes in der Köthener Straße zu suchen ist, beweist auch ein dokumentierter Auftritt von Kurt Tucholsky („Wenn ich nicht Kurt Tucholsky wäre, möchte ich Buchumschlag im Malik-Verlag sein“): Er las 1921 im Meistersaal aus „Panther, Tiger & Co“.

Nach dem Krieg diente das halb baufällig gewordene Haus als „Susis Ballsaal“ eine Zeit lang dem Tanzvergnügen. Mit dem Einzug der Schallplattenfirma Ariola, die den Meistersaal als Tonstudio nutzte, gewann wieder allein die Musik die Oberhand. Der Saal war schon vor dem Krieg vereinzelt für Tonaufnahmen genutzt worden, Zarah Leander hatte hier aufgenommen, nun hießen die neuen Berühmtheiten Rudolf Schock, Peter Kreuder oder Peter Alexander. Nicht die „Klassiker“, sondern die Unterhaltungsmusiker sollten es auch sein, die das vom Verfall bedrohte Haus retteten: 1976 übernahm der traditionsreiche Meisel-Musikverlag das Haus als Produktionsort für seine Hansa-Studios. Udo Lindenberg und Udo Jürgens, Marianne Rosenberg und die Toten Hosen, David Bowie, Depeche Mode und U2 begeisterten sich für den Saal. Offiziell hieß der Ort nun „Studio 2“, doch in der internationalen Szene wurde er fortan „The Big Hall by the Wall“ genannt. „Wenn die Musiker nämlich aus dem Haus stolperten und vor der Mauer standen, dann war das für die schon mehr als exotisch“, weiß auch Axel Mende zu berichten. Der Leiter der immer noch im Hause ansässigen Hansa-Studios kam erst Anfang der Neunzigerjahre in die Köthener Straße, als der Meisel-Verlag den Saal wieder in einen Veranstaltungsraum zurückverwandelte.

U2 und Bowie bestaunen die Mauer

Im Herbst 1990 nahmen U2 mehrere Titel für ihr Album „Zooropa" hier auf und bescherten dem Zeitalter der überdimensionierten Aufnahmestudios einen letzten Höhepunkt. Für einen Moment muss Kurt Lutz seine Erzählung unterbrechen: Ein neuer Helfer soll die Kaffeemaschine abtransportieren und bekommt vor dem schwierigen Geschäft („So ein Gerät ist wie ein alter Mann“) vom Impresario nach gutem Brauch ein Bier gezapft. Dass die familiäre Atmosphäre, das Zusammensitzen nach den Konzerten und die von Lutz liebevoll moderierten Schellackabende den Geist der Kulturinstitution Meistersaal ausmachten, braucht der Intendant da kaum noch auszuführen. Ohne Subventionen ließ sich der Saal mit seinen knapp 300 Plätzen und dem bunten Angebot eines Salons jedoch nicht auf Dauer führen. Und auch sechs „Festivals der europäischen Musik“ mit zumeist jungen Musikern konnten bei allem Charme nicht gegen das Angebot in dem überdimensionierten Kammermusiksaal der Philharmonie oder dem kühlen Konzertstätten in Staatsbibliothek und Musikinstrumentenmuseums ankommen.

Die Zukunft? Wie zur Vorkriegszeit sind als erstes Mäzene und Besitzer gefragt. Der Meisel-Verlag, der in dem Haus im Jahr 2001 sein 75. Jubiläum feierte, will dem Meistersaal nach Worten von Geschäftsführer Sven Meisel in jedem Falle als Konzert- und Veranstaltungsort erhalten, im Februar soll ein neuer Veranstalter seine Chance bekommen. Kurt Lutz steht auf, serviert formvollendet das letzte Bier. Die Kaffeemaschine, bedeutet ihm der Helfer, sei allerdings hinüber.

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