zum Hauptinhalt

Kultur: Die Hölle sind wir

Alfonso Cuaróns düsterer Science-Fiction-Thriller „Children of Men“

London, im November. Theo hat sich eben seinen Morgenkaffee geholt. Das Auge der Kamera folgt ihm aus dem Laden, trödelt kurz am Ausgang, um einen Blick in die andere Richtung der Fleet Street zu werfen. Als er ein paar Meter weiter stehen bleibt, um seinen Scotch aus der Tasche zu ziehen, schließt sie zu ihm auf, dreht sich in einem Bogen um ihn herum, während Theo in seinem Kaffee rührt. Der Coffee Shop taucht gerade im Hintergrund wieder auf, da wird er mit kurzem, trockenen Knall von einer Detonation zerrissen. Ein schrilles Pfeifen ist in der Luft, Menschen schreien. Eine Frau, deren linke Körperseite abgerissen ist, taumelt aus dem schwarzen Loch, das eben noch ein Laden war.

Ein kräftiger Schuss Scotch im Kaffee. Mehr Linderung gibt’s nicht in dieser beklagenswerten Lage, für Theo nicht und auch nicht für den Rest. Seit achtzehn Jahren wurde kein Baby mehr geboren. Die Menschheit kriecht einem sinnlosen Ende entgegen, Chaos und Resignation beherrschen England: Der letzte aufrechte Nationalstaat ist ein Auffangbecken für Flüchtlinge geworden. Angst, Migration, Terror, Pandemien, Kindermangel – London, im November. November 2027.

Nach diesem Donnerschlag von einem Anfang hält „Children Of Men“ seine Zuschauer fortwährend in einem Zustand der Verunsicherung: Regisseur Alfonso Cuarón offenbart ein elegantes Gespür für Beschleunigung und Entspannung und lässt einen Sog entstehen, dem man sich bis zuletzt kaum entziehen kann. Auch Theo, Held wider Willen, wird sich nicht aus der Sache heraushalten können (Clive Owen ganz großartig in einer klassischen Film-noir-Rolle). Früher war er selbst politischer Aktivist. Seit dem Tod seines Sohnes aber fristet er ein trübes Bürokratenleben, das nur von den Ausflügen in die Einsiedelei seines Freundes Jasper (Michael Caine), politischer Karikaturist und alternder Hippie, aufgehellt wird. Alles ändert sich, als Theos ehemalige Geliebte Julian (Julianne Moore) wieder in sein Leben tritt. Sie ist Anführerin einer Rebellengruppe und bittet Theo um einen Gefallen: Er soll Kee (ClareHope Ashitey) aus dem Land schmuggeln. Doch die junge Frau ist kein gewöhnlicher Flüchtling. Theo und Kee finden sich unversehens auf der Flucht – vom Staat wie von den Rebellen mit gleichem Furor durchs Land getrieben.

Alfonso Cuarón ließ sich von P. D. James’ Roman zu einem düsteren Werk inspirieren, das zu den großen ScienceFiction-Dystopien der Kinogeschichte aufschließt. Mehr noch: der mexikanische Regisseur („Harry Potter und der Gefangene von Azkaban“) erfindet das Genre neu, indem er dessen Regeln auf den Kopf stellt. Inspiriert von Vorbildern wie „Metropolis“ oder George Orwells Roman „1984“, entwarfen Filme wie „Blade Runner“ oder „Brazil“ ihre Un-Orte weit in die Zukunft – als technisch fortgeschrittene Gegenwelten, in denen Diktatur herrschte oder Anarchie und vor deren Andersartigkeit vor allem eines als gleichbleibend erkennbar war: das Inhumane im Menschen.

Nach dem Bilderschock vom 11. September 2001 aber fällt es den Filmfuturisten offenbar schwer, weiterzumachen wie bisher. Das reale apokalyptische Bild zwingt die Filmapokalypse in den Realismus: „28 Days later“ (2003), „It’s all about Love“ (2004) oder sogar „Die Insel“ (2005) ließen ihre Endzeitszenarien bereits der Gegenwart gleichen, und Steven Spielberg wagte sich in „Krieg der Welten“ (2005) an offenkundige 9/11-Zitate und ungewöhnlich drastische Darstellungen menschlicher Panik. Alfonso Cuarón treibt das Spiel mit der Gegenwart auf die Spitze – und haucht nicht nur dem Genre, sondern dem Actionfilm überhaupt ganz neues Leben ein.

Das London jener Tage unterscheidet sich kaum von dem unseren. England steht nicht unter Herrschaft eines BigBrother-Systems, sondern wird regiert von einer „wehrhaften“ Rumpf-Demokratie im Namen der Homeland Security. Die glänzend geführte, oft unruhige Handkamera erzeugt eine fortwährende Atmosphäre der Beunruhigung; zugleich wird der unstete Bilderfluss auffallend selten von Schnitten unterbrochen – zwei der atemberaubenden Actionsequenzen kommen ganz ohne Schnitt aus.

Cuarón tut hier das exakte Gegenteil seiner Kollegen, und er setzt Maßstäbe. So gewinnt „Children of Men“ eine seltsam bedrängende, quasi-dokumentarische Form – einmal wird die Sicht aufs Geschehen gar von Blutspritzern auf der Linse getrübt. Cuarón zitiert ikonisch gewordene Krisenbilder aus unseren Abendnachrichten: brennende Rinderkadaver, Guantanamo-Käfige, wütende arabische Demonstranten, Häuserkämpfe wie im Irak. Am Eingang zum Flüchtlingsghetto Bexhill lässt sich im Hintergrund gar ein Zitat des berühmten Folterbildes aus Abu Ghraib ausmachen. Diese Hölle ist die unsere – verschoben in einem Paralleluniversum, das sich nur ein klein wenig schneller in dieselbe Richtung bewegte.

Gerade erst versuchten Filme wie „Guantanamo“ und „World Trade Center“, mit naiven Mitteln das real Gewesene nachzustellen. Wie viel raffinierter geht da dieser packende Thriller vor, der auf diffuse, aber wirkungsvolle Weise daran erinnert, was wirklich los ist – und dabei vor listigem Humor ebenso wenig zurückschreckt wie vor aufreibender Action und geradezu religiösem Pathos. Ein aufregendes Kinoerlebnis.

In 15 Berliner Kinos, OV im Cinestar Sony-Center

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false