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Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann als „Sie“ und „Er“.

© Matthias Horn/Ruhrfestspiele

Tankred Dorst „Das Blau in der Wand": Ehe-Apocalypse Now

Dramaturgie-Altmeister Tankred Dorst zeigte bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen sein neues absurdes Paar-Drama „Das Blau in der Wand".

Es ist die älteste Geschichte der Welt, lange nach dem Urknall und relativ kurz vor dem Weltuntergang, der Evergreen schlechthin. Mann und Frau. Das erste Paar, und vielleicht das letzte, ihr Drama das jüngste Gericht. Aber kann man diese Geschichte seit Adam und Eva noch neu erzählen?

Mit der Neuigkeit mag’s etwa so sein wie in einem Spruch von Marcel Duchamps. Der geniale Kunsterschütterer hat zum gerne beschworenen Thema Innovation gesagt: „In der Kunst gibt es so wenig Fortschritt wie in der Sexualität.“ Der Utopist als Realist. So einer ist auch der Dichter Tankred Dorst.

Bei den 70. Ruhrfestspielen in Recklinghausen war es eine kleine Sensation, als man ein neues Stück des 90-jährigen, seit einiger Zeit in Berlin lebenden Dramatikers ankündigte. Sein Werkkosmos umspannt ja fast ein halbes Hundert große, weltweit inszenierte Stücke, das größte der epochale, den Zerfall aller Utopien spiegelnde „Merlin“, dazu Filme, Opernlibretti, Klassikerbearbeitungen – und jetzt, nur fünf Viertelstunden lang, diesen Dialog zwischen „Er“ und „Sie“. Mit dem schönen, merkwürdigen Titel „Das Blau in der Wand“.

Operntöne im Off, Lebensphilosophie im Innern

Gleichsam als Unterzeile heißt es: „Ein Paar, das sich in einer einzigen langen Szene durch das ganze Leben redet bis in den Tod und darüber hinaus.“ Es ist ein in filigranen, meist kurzen Sätzen leichthändig entworfenes Requiem auf die Liebe, Ehe, Kinderträume, Erwachsenenegomanien (er ist Schriftsteller, Künstler und ein bisschen Macho), Lebenssehnsüchte, Todestriebe. Ein Hauch Max Frisch, wenn Tote sprechen, ein Hauch Heiner Müller und Botho Strauß, wenn der Mann sich zur Existenzvergewisserung mal eben einen Krieg wünscht und die Frau sagt, den haben wir doch hier. Eine Erklärung, Ehealltag oder gar Geschlechterkampf, braucht es da nicht. Das ist der Sturmhauch Dorst, eines Pointillisten.

Heiner Müllers Szenenanweisung für sein Zweipersonenstück „Quartett“ lautete einst „Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem 3. Weltkrieg“. Bei Tankred Dorst gibt es keine Ortsangabe. Eine Schwangere sitzt auf einer Parkbank, der Mann setzt sich hinzu. Dieser Park könnte auch der des Urpaares sein. Gerade sind die beiden, „unerkannt“ im realen wie biblischen Sinne, noch im Paradies, Minuten später scheinen sie in die Gegenwart geworfen, in die Zukunft getrieben. Erde, Himmel, Hölle, die Verhältnisse sind überzeitlich modern, und wenn man das Wörtchen „modern“ nur mal auf der ersten Silbe betont, dann ist im fidelen Fortschritt schon wieder das fiese Finale nah.

„O Zeit, rasender Stillstand“, sagen die beiden. Da erklingen Operntöne im Off und Lebensphilosophien im Inneren. Aber im nächsten Moment sucht der Mann seine Aktentasche mit dem neuesten Manuskript, und die Frau hat einen roten Slip aus der Tasche gefischt, verspottet den Künstlergatten als Dieb in der Damenunterwäscheabteilung des Kaufhauses. Auch das Peinliche kann indes nur ein Spiel sein, die Beziehungskiste eine Zauberbox und die Eheapokalypse eine Liebesfarce.

Worte sind Waffen im Pingpong-Dialog

Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann als „Sie“ und „Er“.
Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann als „Sie“ und „Er“.

© Matthias Horn/Ruhrfestspiele

Das eben ist die leichte Hand. Mit ihr haben Tankred Dorst und seine Frau und Mitarbeiterin Ursula Ehler aus einer der vielen Schubladen ihres legendären fränkischen Apothekerschranks, wo die noch nicht als Vorlass ans Literaturarchiv in Marbach gegebenen Manuskripte ruhen, diese kaum vierzig Manuskriptseiten gezogen. Haben aus schon älteren Notizen und ein paar frischen Ideen dieses Mann-Frau-Spiel um alles und nichts entworfen. Sein Geheimnis gleicht dabei ein wenig dem Titelmotiv. Da haben Handwerker in einem ererbten Barockhaus jenes „Blau in der Wand“ entdeckt. Es könnte aus einer größeren Malerei ein Stück Himmel, Meer oder den Zipfel eines Kleides bedeuten, doch der Denkmalschutz verfügt, das Blau wieder weiß „zuzukleistern“, um das unbekannte Ganze hinter dem Putz auf jeden Fall zu konservieren. So bewahrt der Mensch das Schöne hinter Schleiern, Masken oder, wieder paradiesisch gesprochen, hinterm Feigenblatt. Schein und Sein, Realität und Retusche, was immerhin bleibt, ist die Illusion. Eine alte Geschichte, doch mit einem so wunderlichen wie alltäglichen Bild gleichsam neu erzählt.

„Das Blau in der Wand“ spielt mit dem Ungewisssen. Die Frau hat ein Kind, nicht von ihm, der hier spricht, es könnte schwarz sein oder weiß, auch Afrika ist „hier“, der junge Ganny (alias Ganymed!) ist den Worten der Frau nach allerliebst wie alle guten Kinder. Aber für den Mann könnte das Kind, beim Essen mit dem Messer in der Küche, auch ein „Killer“ sein. Und plötzlich ist von Kindersoldaten und abgehackten Gliedern die Rede. Heutige Realität und ewiges Kinderspiel.

Vielleicht ist das Kind wie die Schwangerschaft zu Beginn auch nur eine Fiktion, das hatten wir schon bei Martha und George im Ehekrieg von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, und ein gleichfalls nur in den Reden rumspukender Dritter, Anderer heißt bei Ihr und Ihm übrigens Georg. So geht das in schnellen, überraschenden Wendungen hin und her, Worte sind Waffen im Dialogpingpong. Von Strindberg bis Dorst.

Der freie Dorst-Raum ist Welt-Raum

Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann und der von Dresden als neuer Schauspielchef nach Düsseldorf wechselnde Winfried Schulz, der die Inszenierung vom „Blau in der Wand“ Anfang Oktober mit in sein Startprogramm an den Rhein nimmt, sie meinten nach der vom Publikum anhaltend bejubelten Premiere: Bei diesem Text eines Neunzigjährigen könnte noch jede junge Generation von Stückautoren das Dialogschreiben lernen. Und tatsächlich wirkt es beim Lesen meisterhaft, wie Dorst ohne jeden atmosphärischen Aufwand oder psychologische Erklärungen Figuren in den Raum stellt und mit ein paar Sätzen Beziehungen, Berührungen, Konflikte, Geschichten schafft. Wobei sich Zeit und Raum wechselseitig aufheben und verdichten, die Zukunft kann von gestern sein und das Ende ein neuer Anfang.

Das Problem ist nur: Der freie Dorst-Raum ist auch ein Welt-Raum, und im Theater braucht die endlose Welt doch einen konkreten, begrenzten Ort. Vermutlich hätte da ein leerer Raum erst mal den größeren Freiraum geboten. Oder eine kleine, bewusst verengte Szene, deren Grenzen sich im Spiel dann aufheben. Im Kleinen Haus der Ruhrfestspiele aber ist für zu viel Wegdriften Platz, ist die offene Bühne gewaltig groß. Für die von David Mouchtar-Samorai inszenierte Uraufführung hat Heinz Hauser die riesige schwarze Bühne mit einem weitmaschigen Netzgewebe aus weißen Strings versehen. Das mag eine Art perspektivisch sich nach hinten verjüngendes Labyrinth andeuten. Ein ähnlicher, viel kleinerer und bescheidenerer Raum zuletzt bei Mouchtar-Samorais geschickt konzentrierter „Carmen“-Inszenierung an Berlins Neuköllner Oper war dort noch als wunderbar feines Gespinst erschienen.

Ein abstrakt symbolisches Bühnenbild

In Recklinghausen wird die Vergrößerung nun zur eher hilflosen Abstraktion; zusammen mit der als schwarze Haube sich über die Szene wölbenden Silhouette einer Schreibtischlampe (Achtung: Schriftsteller!) wirkt das wie ein abstrakt symbolistisches Bühnenbild der späten 1950er Jahre. Im Wortsinne: altmodisch. Und die beiden Schauspieler, Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann, bleiben in diesem Halbleerraum fast ohne Halt.

Sie als Dame im kleinen Schwarzen bleibt auf ihren Pumps ohne engere Beziehung zu Ihm im Schriftsteller-Schlabberlook. Beide verlautbaren den fein gesponnen Dialog per Mikroport, erst steif deklamierend, Deutschmann allmählich lockerer, nuancierter. Karin Pfammatter indes schreit, kennt kein Flüstern, geht barmend in die Knie, ohne Zwischentöne, nicht einmal wenn sie die schöne Geschichte vom „Berühmtesten Maler der Welt“ vorliest, dem die Leute ihr Hab und Gut, ihre Frauen gegen die teuren Gemälde von den Menschen und Dingen überlassen, die der Maler dann schnell entsorgt. Auf dass mit allem ein Ende sei.

Ein Anfang mit Dorst/Ehlers Endspielpaarung wurde so gemacht, doch nach dieser Ersterprobung bleibt vom „Blau in der Wand“ noch viel zu entdecken. Am nächsten Tag übrigens stand im reichen Jubiläumsprogramm der Ruhrfestspiele (mit Castorf, Peymann, Burgtheater, Hamburg, Berlin, Aischylos, Houellebecq, Calderón, Mozart, Rimini Protokoll) das ganz große Ende an. Herbert Fritsch hat als „Apokalypse“ die biblische Offenbarung des Johannes inszeniert: Ganz allein im Tausendseelenhaus der Festspiele agiert da Wolfram Koch. Illuminiert den Weltuntergang. Demnächst auch in Berlin an der Volksbühne.

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