zum Hauptinhalt
Schwule Subkultur. Stephen Thompson in „Antigone Sr.“, mit dem das Berliner Tanzfestival am Freitag im HAU 1 an den Start ging.

© Eventpress

Eröffnung des Festivals "Tanz im August": Antike auf dem Catwalk

Anatomiestunde und queere Modenschau: Daniel Léveillé und Trajal Harrell eröffnen das Festival "Tanz im August".

Von Sandra Luzina

Die Vorfreude war groß. Erstmals verantwortet die für ihre persönliche Handschrift bekannte finnische Kuratorin Virve Sutinen das Programm von Tanz im August. Eine Frau mit ansteckendem Enthusiasmus. „Ja zum Theater“, ruft sie bei ihrer Eröffnungsrede im Berliner Hebbel am Ufer. „Ja zu Vision, Humor, Brillanz, zu Punk, den Achtzigern und zu Voguing.“ Die Liste ist damit noch nicht vollständig – Virve Sutinen möchte alle einschließen in einer großen Umarmung.

Zuvor hat der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Klaus Wowereit die Bedeutung des Festivals unterstrichen und sich weit aus dem Fenster gelehnt: „Ich bekenne: Der Tanz ist ein Schwerpunkt unserer Kulturpolitik.“

Aber kaum dass es losgeht auf der Bühne, weicht die Begeisterung einem Befremden. Dass bei Vivre Sutinen die Gegensätze aufeinanderprallen, stand zu erwarten. Die beiden Produktionen des Eröffnungsabends, „Solitudes Solo“ von Daniel Léveillé im HAU 2 und „Antigone Sr.“ von Trajal Harrell im HAU 1, bilden jedenfalls einen denkbar harten Kontrast. Léveillé zählt zu den Pionieren der kanadischen Tanzszene; als einer der Ersten hat er nackte Körper ausgestellt und präsentierte eine Trilogie unter dem Titel „Anatomy of the Imperfection“. Die „Solitudes Solo“ sind minimalistische Körperstudien zu Bachs Violinsonaten und Partiten. Auch hier geht es um das Unperfekte, die fünf Tänzer, vier Männer und eine Frau, tragen T-Shirts oder nur Unterhosen. Sie treten einzeln auf, nacheinander, bleiben ohne jeden Kontakt. Jeder beginnt sein Exerzitium in der Stille, und wenn Bachs Musik einsetzt, hat das kaum Einfluss auf ihre Bewegung. Diese Tänze haben nichts Erhebendes, sie atmen keine Leichtigkeit. Léveillé betont das Gewicht des Körpers. Alles ist von lastender Schwere, kostet sichtbar Mühe.

Léveillés Tänze der Einsamkeit haben etwas Ungelenkes

Immer wieder gehen die Performer tief in die Hocke, springen in die Höhe, drehen sich um die eigene Achse. Und immer wieder Stillstand. Zersplittert wirkt der Tanz, als ob nur noch die Scherben einer gemeinsamen Sprache übrig seien. Léveillés Tänze der Einsamkeit haben etwas Rohes und Unbehauenes, manchmal auch Ungelenkes. Kauernd heben die Tänzer den Blick gen Himmel, aber jedes Streben nach Spiritualität, jeder Versuch der Selbststeigerung endet mit einer erneuten unsanften Bodenlandung. Die Repetitionen und das ständige Abrackern ermüden bald. Berührend ist lediglich das Solo von Esther Gaudette in seiner Mischung von Verletzlichkeit und Zähigkeit.

Nach der Anatomiestunde ist man regelrecht dankbar für den Narzissmus, den die Tänzer von Trajal Harrell in „Antigone Sr.“ pflegen. Er verdient zweifellos das Prädikat „Large“. Die Stücke aus Harrels Serie „Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church“ haben unterschiedliche Größenbezeichnungen. Sie gehen alle von derselben Frage aus: Was wäre passiert, wenn 1963 ein Tänzer der schwulen Voguing-Szene aus Harlem mit den Postmodernisten der Judson Church aufgetreten wäre? Die Extravaganza „Antigone Sr.“ firmiert als L – was gewiss an dem antiken Stoff liegt. Das Haus von Theben, dessen blutige Verstrickungen Sophokles in der Tragödie „Antigone“ schildert, wird nun zu einem „House“ – und Antigone ist eine Bitch, was sonst? Dazu muss man wissen: In der New Yorker Drag-Ball-Szene sind die „Houses“ familienähnliche Verbindungen, die Bezeichnungen tragen wie „House of Dior“ oder „House of Chanel“.

Harrell verwendet als Erkennungsmelodie einen Britney-Spears-Kracher

Das Berliner Publikum ist doch etwas konsterniert über das Treiben im House von Harrell. Dessen Erkennungsmelodie entpuppt sich als der Britney-Spears-Kracher „Hit me baby one more time“. Die vier tollen Tänzer präsentieren sich anfangs in mitreißenden Solos, bis Harrell, der den „Master of Ceremonies“ gibt, sie unterbricht. Was folgt, gehorcht den Spielregeln der Voguing-Szene: „Give me legendary face! There’s an icon in the house!“ wiederholt Harrell in einem Sprechgesang.

Harrell und Thibeault Lac, in anmutiger Pose, beginnen eine Serie von „We are …“-Sätzen. „Wir sind Jay-Z und Kany West.“ „Wir sind Cunningham und Cage.“ Und schließlich: „Wir sind Ismene und Antigone.“ Die Antike wird hier auf den Catwalk verlegt: Statt Pathos sieht man hier Posen, statt Tragik Travestie. Eins muss man den Boys jedoch lassen: Sie verstehen was vom „Walken“, um mal Heidi Klum zu zitieren. Doch natürlich drängt sich die Frage auf: Ist die Bitch Antigone auch ein Modell für die schwule Subkultur – für Mut, Widerstand und Humanität?

Fragen von Identität, Rasse und Geschlecht klingen zwar an bei dem afroamerikanischen Choreografen, doch eher nebenbei. Mehr Sorgfalt hat Harrell auf die extravaganten Fummel gelegt: Klamotten aus dem Second-Hand-Laden werden zu schrillen Maskierungen drapiert. Die queeren Looks sind toll anzusehen. Doch der „Antigone“-Stoff ist zu groß, um ihn in ein Popformat zu zwängen.

Das Festival Tanz im August läuft bis zum 30. August an zehn Spielorten in Berlin. Das komplette Programm finden Sie im Internet unter www.tanzimaugust.de.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false