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Kultur: Tausend Spielfilme bis Silvester! Ein Fernsehführer für Kulturpessimisten

Jürgen Habermas nannte unsere Lage einmal die neue Unübersichtlichkeit. Er bemerkte genau zwei Dinge.

Jürgen Habermas nannte unsere Lage einmal die neue Unübersichtlichkeit. Er bemerkte genau zwei Dinge. Erstens: Fernsehzeitschriften sind heute so dick wie Versandhauskataloge. Ein eindeutiger Hinweis auf die Komplexität der modernen Welt. Zweitens: Der Weihnachtsfilm ist weg!

Über 1000 Spielfilme verspricht die "TV-Today" bis Silvester. Wen bei dieser Nachricht eine leise vormoderne endzeitliche Resignation anweht - werden es im nächsten Jahr 10 000 sein? Werde ich die alle sehen können? -, der hat die Herausforderungen von Weihnachten unter den Bedingungen des Informationszeitalters noch nicht angenommen. Denn warum gibt es über 1000 Spielfilme? Damit wir unseren Weihnachtsfilm selbst erkennen!

Machen wir das jetzt mal praktisch. Es ist, sagen wir, 10.45 Uhr. Höchste Zeit, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Auf Pro 7 läuft "Godzilla - Kampf der Saurier", auf RTL "Off Beat - Lasst die Bullen tanzen" sowie im ORB "Mighty Ducks II - Das Superteam kehrt zurück". Die Frage, der wir jetzt keinesfalls ausweichen dürfen, lautet: Sind das eigentlich Weihnachtsfilme? Einfach zu N 3 Richtung "Weihnachtsgans Auguste" oder zum MDR in die "Muppets-Weihnachtsgeschichte" zu flüchten, wäre Konfliktvermeidung. Also "Godzilla", das "Superteam" und die "Bullen" gleichzeitig. Wir bemerken augenblicklich die strukturelle Ähnlichkeit von "Godzilla" mit der abendländischen Weihnachtsgeschichte. Ein Meteorit weckt Godzilla! Es handelt sich demnach um das japanische Äquivalent zu jenem Kometen, den die Hirten am Himmel von Bethlehem erblickten. Und danach war - in Bethlehem wie bei "Godzilla" - nichts mehr wie vorher. Pro 7 wollte also unseren gerade zu Weihnachten sehr eurozentristisch verengten Blick erweitern. Natürlich haben wir soeben im Bayerischen Rundfunk das "Gespenst von Canterville" mit Charles Laughton verpasst, aber die erste Bewährungsprobe ist bestanden.

Die nächste Herausforderung heisst "Wolf". 20.15 Uhr, RTL. Jack Nicholson wird zum Tier, genauer zum Wolf. Horrorthriller! 3 Punkte, melden die Fernsehzeitschriften. Warum tun die das?, fragen die Traditionalisten und denken laut über den Zusammenhang zwischen der Einführung des Privatfernsehens und dem televisionären Abschied von Weihnachten nach. Denn Privatfernsehen ist, wenn nichts mehr den TV-Alltag unterbricht. Schon gar nicht Weihnachten. Aber das ist falsch. Denn auch RTL möchte, dass wir immer klüger werden. Wenn es uns also Jack Nicholson zeigt, der zum Wolf wird - der Mensch zum Tier -, was sollen wir dann sofort erkennen? Einen negativen christologischen Verweis natürlich! RTL erinnert uns an die Alternative des Tages: Gottwerdung des Menschen.

Lassen Sie sich jetzt bloß nicht ablenken von Bergmans "Fanny und Alexander" (HR) oder von dem wunderbar poetischen tschechischen Märchenfilm "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" (WDR)! Halten Sie durch! Sie schaffen es von "Wolf" gerade noch zu "Mindbreakers" (Vox: Aliens landen nach dem Atomkrieg auf der für immer unbewohnbaren Erde ...), zu "Conan - Der Barbar" (Pro 7: Arnold Schwarzenegger haut ein Kamel um) oder "Auf brennendem Eis" (RTL: Steven Seagal kämpft gegen gemeinen Ölkonzern) sowie "Nico" (Sat 1: Steven Seagal kämpft gegen die Mafia) und "Jackie Chan: Winners & Sinners" (RTL 2). Weihnachtsfilme? Nun gut, manche von denen haben schon angefangen, aber das macht gar nichts, weil es auch zehn Minuten später noch genauso knallt, raucht, schreddert und dampft wie vorher und nachher.

Jetzt müssen Sie alles geben. Jetzt müssen Sie dem Kulturpessimisten, der auch in Ihnen steckt, erklären, warum all diese Rasenmäher-Streifen gerade Heiligabend so wichtig sind. Warum Pro 7, Vox, RTL, Sat 1, RTL 2 und die anderen einen unverzichtbaren Beitrag zum Festtagsprogramm leisten. Weil unsere Welt nämlich keineswegs so friedlich ist, wie man sich das Weihnachten oft wünscht. Nur darum hat Vox den sogar nach Maßstäben des Actionfilms absolut viertklassigen "Mindbreakers" (Atomkrieg! Aliens!) ins Programm genommen, der nur noch um 0.05 Uhr von "Delta Force" (Pro 7: arabische Terroristen entführen US-Passagiermaschine) überboten werden kann. Das dauert dann bis kurz nach 2.00 Uhr. Sie kommen also noch rechtzeitig zum Schluss von "Ist das Leben nicht schön?" (ZDF), Frank Capras Weihnachtsfilm schlechthin. James Stewart als Erbe einer kleinen Bausparkasse, der am Weihnachtsabend beschließt, sich umzubringen. Da greift ein Engel ein ... Ja, ja, ist schon gut, Sie dürfen sich gehen lassen und "Ist das Leben nicht schön?" mögen. Und hinterher ab 4.00 Uhr sogar noch "Misfits - Nicht gesellschaftsfähig" sehen. Und um 5.50 Uhr vielleicht "Rotkäppchen" mit Isabella Rossellini? Denn der Test ist bestanden!

Am Mittag des ersten Feiertags vor die Wahl zwischen "Sprengkommando Atlantik" (RTL) und "Der Dieb von Bagdad" (ORB) gestellt - seien Sie sentimental, nehmen Sie den "Dieb von Bagdad"! Denn Sie haben den Kulturkritiker in sich besiegt. Sie werden es noch kurz bedauern, dass der Kabelkanal "Extremeties II: Die nackte Zelle" für Erotik hält. Aber Sie sahen längst im MDR "Das kalte Herz", diese wunderbare Geschichte vom Köhler (Erwin Geschonneck), der seine Seele verkauft. Ihnen kann nichts mehr passieren. Jetzt noch kurz bemerken, dass in diesem Jahr weder ARD noch ZDF selbst einen großen Film fürs Weihnachtsprogramm gemacht haben. Und dann die allerwichtigste Taste drücken: Aus.

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