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Groschupf ist ein Chronist verlassener Plätze.

© Oetinger Verlag

Technoszene: Sound der Großstadt

In Johannes Groschupfs aufregendem Roman „Lost Boy“ sucht ein Junge nach seinem verlorenen Gedächtnis.

Ich höre nur die Bässe. Die dumpfen Schläge, die durch das unwahrscheinlich tiefe Gewölbe dieses verlassenen Untergrundbahnhofs wabern. DJ Evils düsterdunkle Beats. Die satten Bässe rollen an wie schwere Wellen und schlagen mit solcher Wucht gegen meinen Bauch, dass mir schlecht wird. Geh da nicht hin.“ So endet der Prolog zu Johannes Groschupfs Großstadtroman „Lost Boy“, der den Faden seines erfolgreichen Erstlings im Jugendbuch „Lost Places“ wieder aufnimmt.

Der Ton ist gesetzt, es geht um Techno, um Sound und ungemütlich-faszinierende Orte, von denen eine magische Anziehungskraft ausgeht. Doch Lennart, der in einem Jahr Abitur machen soll, wacht nicht in Berlin auf, sondern im Hamburger Hauptbahnhof. Totaler Filmriss. Er kann sich an nichts erinnern. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich hierhergekommen war. Offensichtlich mit dem Zug, aber woher? Weshalb? Und wer war ich? Alles, was ich wusste, war dieser Name, den eine Mädchenstimme in meinem Kopf rief: Lennart, Lenny.“

Fünf Euro hat er noch in der Tasche und ein Foto von einem Mädchen aus dem Fotoautomaten, kein Handy, keinen Ausweis, nichts. Ein Kaffee an der Imbissbude ist der erste mühsame Schritt zurück in die Realität. Er spaziert an der Elbe entlang und versucht sich über seine Situation klar zu werden.

Dabei beobachtet er wie ein Scanner seine Umgebung und registriert die Geräusche dieses frühen Morgens. Ein Fischhändler auf dem Markt engagiert ihn kurzerhand, um seine Ware an den Mann zu bringen. Er macht keine großen Worte und Lennart verdient sein erstes Geld. Der Händler verschafft ihm sogar eine Bleibe in einem alten Wohnwagen auf einem verlassenen Campingplatz.

Langsam kehrt die Erinnerung zurück, einzelne Szenen blitzen durch seinen Kopf. Fast impressionistisch beschreibt Groschupf diesen Prozess der Selbstvergewisserung: „Warum träumte ich Sounds? Ein Presslufthammer in einem Kellergeschoss. Das Starten eines Autos in einem leeren Parkhaus. Das Gähnen eines alten Gottes in einem leeren Universum. Solche Sounds.“ Jetzt weiß Lennart auch wieder, wer das Mädchen auf dem Foto ist: Moe, seine Freundin. Ein U-Bahn-Tunnel in Berlin taucht in seiner Erinnerung auf und die Warnung „Geh da nicht hin“.

Wer Groschupfs „Lost Places“ kennt, erkennt die Clique wieder: Moe, Chris, Steven, Kaya. In „Lost Boy“ beschreibt der Autor den Weg Lennarts zurück zu sich selbst und seinem Gedächtnis. Der Junge ist ein Soundsammler, daran erinnert er sich bald. Mit den Tönen, die er zusammenstellte, hatte er Bulgur, den DJ Evil, beliefert, der daraus Musik machte. Am Fischstand lernt Lennart Jule kennen, die ganz anders ist als die üblichen aufgebrezelten Partygirls. Jule wird sein Anker in Hamburg, sein Fixpunkt. Sie begleitet ihn nach Berlin. Und irgendwie hat Lennart das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt und dass sein alter Kumpel Bulgur dabei eine gefährliche Rolle spielt.

Groschupf versteht es meisterlich, Spannung aufzubauen. Gleichzeitig zeichnet er ein präzises Bild der Berliner Clubszene, die gerne vergessene Orte, Ruinen und U-Bahnhöfe besetzt. Wenn die letzten Brachen in Berlin einmal bebaut sind und die Abenteuerspielplätze des nächtlichen Partyvolkes verschwunden sind, muss man wohl seine Romane lesen, um ein Feeling für diese Zeit zu bekommen. Ganz nebenbei entwickelt sich der Roman auch zu einem augenzwinkernden Metropolenvergleich Hamburg – Berlin.

Als Lennart seine Freundin wiederfindet, dämmert ihm allmählich, was in jener Nacht geschehen ist. Nun muss er sich entscheiden: Moe oder Jule? Er muss Verantwortung übernehmen – und er ist dazu bereit. Das Ende soll nicht verraten werden, doch man könnte sich gut eine Fortsetzung vorstellen. Das Potenzial dazu hat dieser aufregende Metropolenroman allemal.

Johannes Groschupf: Lost Boy. Roman. Oetinger Taschenbuch, Hamburg 2017. 240 Seiten, 12,90 €. Ab 14 Jahren.

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