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© Tamerlan Dzudzow

Telefongespräche mit Südossetien: "Die Kinder sitzen reglos herum"

Im Winter 2004/2005 arbeitete der Theaterregisseur Peter Krüger an Theatern in Tschetschenien und Inguschetien, seitdem kennt er auch das Ensemble des Dramatischen Theaters in Tschinwali, der Hauptstadt Südossetiens. Seit Beginn des Krieges telefoniert er täglich mit dem dortigen Intendanten und Kulturminister Tamerlan Dzudzow, der in den Kriegswirren nach seinen Schauspielern sucht Acht von 18 Ensemblemitgliedern hat er mittlerweile gefunden.

Mittwoch, 13. August

22.38 Uhr. Tamerlan spricht schleppend, er wirkt erschöpft. "Ich bin der Minister für Kultur und unsere Kultur ist zerstört. Wir haben nichts mehr. Kein Theater, keine Bibliotheken, keine Museen – alles vernichtet." Ich wollte nicht resignieren und ließ mich vom Optimismus meiner sechs Akteure anstecken, die mitten im Krieg an einem Theaterprogramm arbeiten. Hat er die zehn noch verschollenen Mitglieder seines Ensembles gefunden? "Nein, es ist kein Durchkommen. Die Straßen sind verstopft, unentwegt Kontrollen, hier in Tschinwali ist alles kaputt."

Im Frühjahr waren die Pläne für ein neues Theatergebäude fertig, das Haus von 1931 sollte mit Anbauten ummantelt werden "Jetzt werden wir das Geld für das Allernotwendigste brauchen." Tamerlan will nicht weitersprechen, er verabschiedet sich

Donnerstag,14. August

Tamerlans Frau ruft an, ihr Mann ist noch unterwegs. Wie geht es der Familie? "Wir leben im Schock … Die Kinder sind am schlimmsten dran. Sie verstehen nicht, warum es plötzlich ständig geknallt hat, die Zerstörungen, warum sie tagelang im Keller sitzen mussten. Die Flucht unter Beschuss, die Brände, die Toten, die Hysterie." Die Versorgung mit Lebensmitteln ist mühsam. Nach langem Anstehen gibt es genug Brot, zeitweise auch Milch. Stundenlang kein Strom, kein Gas. "Wir essen wenig. Ich sitze und lausche: Geht es wieder los?"

Meine jüdischen ukrainischen Freunde können russisches Fernsehen empfangen, "Vesti TV". Dauernd sind schreckliche Zerstörungen in Südossetien zu sehen, lange, ungeschnittene Szenen vom Krieg, entgeisterte Menschen. Ein Arzt führt durch eine Krankenhausruine: "Wir waren im Keller, operierten ununterbrochen, während oben die Granaten einschlugen. Geplündert wurde auch." Eine Georgierin schreit: "Wir haben problemlos mit den Osseten zusammengelebt. Die Politiker spielen ein gemeines Spiel." Von Georgien meldet der russische Sender nichts.

Bei uns scheint es umgekehrt. Das deutsche Fernsehen zeigt überwiegend die Zerstörungen in Georgien. In der Tagesschau raste ein ARD-Team durch die Vororte von Tschinwali, der Korrespondent sprach vom Genozid in georgischen Dörfern in der Nähe von Tiflis, und noch in vor der Hauptstadt Tschinwali sprach er weiter nur vom Leid der Georgier in Südossetien.

Endlich meldet sich Tamerlan. Auf der Suche nach den verschwundenen Ensemblemitgliedern war er heute in primitiv errichteten Lazaretten, man zeigte ihm Leichen. Er atmet schwer. "Kein Kollege darunter. Die Telefonleitungen sind weiterhin tot." Als Regierungsmitglied hat er einen vorsintflutlicher Kasten mit Satellitentelefon, aber nur zeitweise. An Handysendern wird gearbeitet.

"Die Georgier wussten ganz genau, was sie zerstören. Wollten uns mundtot machen. Langsam kriegen wir auch die Versorgung wieder hin. Oft noch kein Wasser. Das Klärwerk arbeitet nicht, die Kanalisation ist verstopft." Er macht eine Pause. Erzählt von der Tapferkeit der Frauen, die Schutt wegschaffen, Straßen fegen, sich um ein "normales" Leben bemühen. Von den reglos herumhockenden Kindern. Ich frage, wie wir helfen können. Tamerlan: "Wir brauchen humanitäre Hilfe. Sanitäre Artikel. Luftmatratzen, Decken, Bettwäsche, Spielsachen. Verbandszeug, Jod, medizinisches Gerät." Er will das Notwendigste auflisten, nach einer Faxmöglichkeit sehen.

Freitag, 15. August

23. 55 Uhr. Tamerlan wirkt aufgedreht, redet sich den Tag von der Seele. Seine Stimme, sonst auf eine in der Schauspielschule anerzogene männliche Tiefe gesetzt, ist heute höher, er spricht Stakkato. "Das Telefon brauchten andere bis jetzt dringender. Mit Hilfe der Vermisstenlisten haben wir in Nordossetien nach Spuren gesucht. Unsere Familien haben dort Verwandte und Freunde, leben in Heimen oder Schulen, sind froh, erst einmal ein Dach über dem Kopf zu haben. Von meinen Schauspielern leider keine Spur. Die Totenlisten werden vervollständigt. Es fehlt an Särgen. Sie kriegen nicht einmal eine würdevolle Bestattung, sind in schmierige Decken gehüllt."

Das Wasser macht ihnen Sorgen. Tierkadaver verwesen darin, das Klärwerk arbeitet nicht, die Kanalisation ist eine Katastrophe, es fehlt an Desinfektionsmitteln. "Der Gestank ist furchtbar. Hitze. Fliegen. Wir haben Angst vor Seuchen." Der Strom bleibt ein Problem,Überlandmasten wurden gesprengt, das Kraftwerk ist bombardiert. Trupps fahren herum, suchen die Alten auf, bringen Wasser und Essen. "Oder sie schleppen die Alten in Zelte, auch gegen ihre Einsamkeit." Die Frauen schuften, das Problem sind die Männer ab 40. Sie hocken wie die Kinder auf der Straße, rauchen, reden kaum, schauen einen nur groß an.

Tamerlan zündet sich noch eine Zigarette an. "Was hatten sie gegen die St. Georgs-Kirche aus dem 8. Jahrhundert? Warum haben sie die Synagoge zerstört? Was könnt ihr in dem fernen Land überhaupt schnell für uns tun? Wollt ihr unserem kleinen ,Separatistenvolk’ zur Seite zu stehen? Ohne das verfluchte politische Lagerdenken?" Dann zählt er wieder auf, was gebraucht wird: Desinfektionsmittel. Wasseraufbereitungsmaschinen, Notstromaggregate, Chemie-Klos, Särge, Verbandsmaterial, Ärzte, Spezialisten, medizinisches Personal, Elektriker, Klempner, Kanalisationsspezialisten. Morgen will er versuchen, Fotos zu mailen.

Sonnabend, 16. August

Gegen 11.30 Uhr treffen die Fotos ein. Gegen 12.40 Uhr ruft Tamerlan an: "Mehr war nicht möglich, Minengefahr, Blindgänger. Erinnerst du dich noch an unser Gespräch über „Die Troerinnen“ von Euripides? Poseidon sagt, das zerstörte Troja vor sich: „Ihr Narren! Menschen, die ihr glaubt, man könnte Städte niederbrennen und aus Gräbern Wüsten machen, ohne selbst zugrund zu gehen"

Peter Krüger

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