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Die Stadt, das Gras und der Asphalt. Blick auf das Tempelhofer Rollfeld. Am Sonnabend wird es für Besucher geöffnet, erstmals seit der Flughafenschließung.

© Kitty Kleist-Heinrich

Tempelhof: Hinter dem Draht die Welt

Urstromtal in Berlin: Ein Rundgang um das Tempelhofer Feld.

Man hat es aus dem Flugzeug gesehen. Man ist vielleicht mal da gelandet. Oder drumherum gefahren, aber man ist nie richtig auf dem Tempelhofer Feld gewesen. Man durfte ja nicht. Sehr lange nicht. Das wird sich kommenden Sonnabend ändern. Ab Sonnabend ist das Tempelhofer Feld wieder offen. Jeden Tag. Von acht bis zweiundzwanzig Uhr.

Von oben sieht es aus wie das größte Loch im Stadtkäse. Eine leere Fläche, auf der sich nicht viel befindet. Ein Wiesenmeer mit breiten Asphaltstreifen, das einmal Ackerfläche, dann Parade- und Exerzierplatz war. Kaisers Geburtstag wurde auf dem Tempelhofer Feld gefeiert, Hunderttausende jubelten hier, das ist nicht mal hundert Jahre her. Es gab Fußballplätze, eine Pferde- und eine Radrennbahn. Schafsherden haben hier geweidet und Zeppeline sind gelandet. Und immer sind sehr viele Menschen dagewesen. Es gibt historische Fotos, die das Erholungsgetümmel zeigen, Großfamilien mit Fresskörben, Liegestühlen und Sonnenschirmen.

Der Flughafen Tempelhof hat das Feld zum Nicht-Ort, zur verbotenen, unbetretbaren Zone gemacht. Die wird Berlin sich nun zurückerobern – und es wird, wie Fontane es im „Schach von Wuthenow“ schildert, wieder Ausflüge nach Tempelhof geben. Diesen Sonnabend gibt es dafür besonderen Grund: Es passiert ja nicht alle Tage, dass eine Stadt auf ihrem Gebiet eine 220 Hektar großen Grünfläche für „lastfreie Freizeitnutzungen“ findet. Die Wendung „lastfreie Freizeitnutzungen“ stammt aus einer Veröffentlichung des Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg. Herumlaufen, Fahrrad- und Rollerbladefahren und auch Drachensteigen müsste also erlaubt sein.

Steht man auf dem Feld, gibt es nicht viel zu sehen. Kein Baum, kein Strauch. Es ist so groß, so wüst, so leer. Romantische Landschaftsgärten sehen anders aus. Das Auge findet keinen Halt, an diese Totale in der Stadt muss man sich erst mal gewöhnen. Auf dieser Fläche ist jeder sein eigener Aussichtsturm – und deshalb leicht vom Gefühl des Erhabenen überwältigt. Irgendwo gab es mal einen Badeteich, Schlangenpfuhl genannt. Den könnte man ja wieder ausgraben, unter der Rollbahn. Nichts zu sehen, trotzdem ist es großes Kino, auf dem Tempelhofer Feld zu stehen. Der Rundumblick wäre eine Aufgabe für Landschaftsmaler: Die Stadt hinter einer weiten, ebenen Fläche zu zeigen. Ein paar Kirch- und Kraftwerkstürme, Schornsteine, der Schöneberger Gasometer und die Minarette der Moschee an der Hasenheide ragen aus der flachen, in der Ferne verblauten Randbebauung heraus. Der weiße Radarturm des Flughafens dominiert das Panorama, er sieht aus wie ein von Bernd und Hilla Becher fotografierter Wasserturm.

So leer und unbebaut und ganz ohne Stadt zeigt sich hier, mitten in der Stadt, auf einmal Landschaft. Eiszeitgeformte Landschaft. Wer auf dem Tempelhofer Feld steht, der steht auf dem Tempelhofer Oberland des Teltow, ein gutes Stück oberhalb des Warschau-Berliner-Urstromtals. Und hätte der Mensch sich hier in den letzten paar hundert Jahren nicht so vielfältig betätigt, wüchse hier auf der Hochfläche des Teltow wohl ein Mischwald aus Traubeneichen und Waldkiefern.

Noch ist das ganze Tempelhofer Feld eingezäunt. Es ist der alte Zaun, der das Flugfeld schützte. An vielen Stellen wurde der Stacheldraht entfernt, in Neukölln entlang der Oderstraße und der Straße 465 ist er noch zu sehen. Spaziert man dort am Zaun entlang, kann man sich über diesen Zaun ganz schön ärgern.

Der Zaun stört das Bild. Der Zaun provoziert. Der Zaun ist einfach hässlich. Man möchte solch einen Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtkrönung in Berlin eigentlich nicht mehr sehen. Der Kalte Krieg ist doch vorbei. Und Stacheldraht ist so 20. Jahrhundert. Zugegeben, er stand halt schon da. Gäbe es ihn nicht schon, es wäre wahrscheinlich viel zu teuer, ihn zu bauen. Für die Internationale Gartenbauausstellung, die schon im Jahr 2017 stattfinden soll, kann man ihn vielleicht gebrauchen. Weil er nun also dasteht, ist man auf die Idee gekommen, den Zugang zum Tempelhofer Feld zu beschränken. Es soll ein Park mit Schließzeiten sein. Was will uns das sagen? Nach 22 Uhr bitte keine armen Leute aus Neukölln mehr auf dem Feld? Ausgangssperre? Nachtruhe bitte, von 22 Uhr an? In Berlin?

„Der Zaun muss weg. Für ein Recht auf Stadt“ und „Stadt ist für alle da“ ist auf einem Plakat in der Herrfurthstraße zu lesen. Vor dem Verteilerkasten, auf dem es klebt, bleibt ein Dackel stehen und bellt. Das ist wohl als Zustimmung zu deuten.

Der Dackel geht dann weiter und hebt sein Bein an einem alten Autoreifen, der flach auf dem Bürgersteig liegt. Ein Stück weiter hebt er wieder sein Bein, diesmal markiert er ein blaues Sofa, das zwischen zwei Bäumen abgestellt wurde. Und hebt schließlich zum dritten mal sein Bein und macht an den Zaun. In den sind hier an der Oderstraße massive Tore gebaut worden, eins auf Höhe jeder einmündenden Querstraße. Eingänge zum Park, Geschenke für die Anwohner, allerdings mit Stacheldraht-Geschenkband umwickelt. Das Tor Höhe Herrfurthstraße wurde, so sieht es aus, letzte Woche noch einmal nachgerüstet und mit ganz frischem Natodraht geschmückt. Eine Rolle blinkt und glitzert in der Sonne. Angesichts solcher Maßnahmen kann man sich schon fragen: Werden an jedem Zauntor Grenzposten stehen? Gibt es Selbstschussanlagen? Brauchen Berliner einen Passierschein? Wird es einen Zwangsumtausch geben? Baut die landeseigene Grün Berlin GmbH, die den Park betreibt, hier vielleicht die DDR wieder auf oder soll das ein Freilichtmuseum des Kalten Krieges sein?

In Berlin, die Hoffnung bleibt, sind schon ganz andere Zäune und Mauern gefallen. Man darf also zuversichtlich sein, dass auch dieser eines Tages nicht mehr stehen wird. Widerstand regt sich, die Initiative „Reclaim Tempelhof“ hat einen Zaunwettbewerb ausgeschrieben: Wer ihn am schönsten einhäkelt, anmalt oder sonst wie kreativ ungestaltet, der gewinnt den ausgelobten „Goldenen Bolzenschneider“. Die Natur beteiligt sich anscheinend auch an diesem Wettbewerb. Auf einem Abschnitt der Straße 465 sind Birken und Ahornbäume durch den Zaun gewachsen und hier und da schon eingewachsen, die höchsten von ihnen wachsen einfach weiter, auch durch den Stacheldraht, der sich oben auf der Zaunkrone rollt. Bald wird hier ein Baumzaun stehen, hinter dem Robinien und andere Pioniergewächse das Feld erobern werden. Gespannt darf man sein, was aus den Samenbomben der Guerillagärtner wachsen wird, die bei dem letztjährigen Versuch, das Flughafengelände zu besetzen, geworfen wurden. Wenn keiner aufpasst oder nicht bald wieder ein paar Schafherden dort grasen, wird das Tempelhofer Feld in ein paar Jahren zugewachsen sein. Mit Traubeneichen und Waldkiefern? Mal sehen.

David Wagner lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman „Vier Äpfel“ (Rowohlt).

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