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Der Straßenmarkt auf der rue Aligre südlich der Metrostation Bastille

© mauritius images/ Alamy

Terror in Paris: Es geht nicht nur um uns

Die Pariser Anschläge sind nicht - wie oft behauptet - ein Angriff auf unsere Kultur oder unsere Werte. Sie sind mehr als das. Ein Essay.

Am Petit Cambodge und dem Carillon im 10. Arrondissement von Paris vorbei, links abgebogen, auf den Kanal Saint-Martin zu, landet man im Comptoir General. Kneipe, Restaurant, Konzertsaal, Kuriositätenkabinett. An den Wänden hängt afrikanischer Kopfschmuck, Befreiungsplakate aus der Kolonialzeit, von Touareg geschossene Fotos. Viele Veranstaltung haben antikoloniale Themen. Hier soll man unbekannten Kulturen nahekommen, ohne sie zum Objekt zu machen.

Der Comptoir General ist ein Etablissement, das nirgendwo in Paris, vielleicht nirgendwo in Europa, einen besseren Ort hätte. Das 10. Arrondissement ist eines der großen Immigrantenviertel der Stadt, rund um den Gare du Nord und La Chapelle, wo große Communities aus Subsahara-Afrika leben, südlich den Boulevard Magenta entlang, bis die Straßenszenen immer bürgerlich-bohèmer werden, und rund um die Place de la République von Spaßsuchern, Skateboardern und Berufstrinkern bevölkert wird.

Die Märkte und gestikulierenden Händler am Boulevard Barbès sind zum Synonym für maghrebinisches Leben in der französischen Hauptstadt geworden, etwas weiter östlich leben die größten indo-pakistanische Communities. Die Einwanderungsstadt Paris hat hier ihr Zentrum.

Keine 15 Minuten Fußweg südlich, das Bataclan im Rücken, an der Ecke Boulevard Voltaire und Rue Oberkampf, reiht sich ein Café an das nächste. Schilder mit Happy-Hour-Preisen überall – 17-22 Uhr, Kronenbourg – 4 Euros. Cocktail 6 Euros – Unschlagbare Preise für Paris. Jeden Abend versammeln sich hier bis über Parmentier nach Ménilmontant junge Erwachsene, Gesellschaftssüchtige, die Banlieu-Jugend, After-Work-Trinker, Touristen – die Pariser Stadtgesellschaft – pour boire un verre, um ein Gläschen zu trinken, in der Vergnügungsstadt Paris.

Paris und Beirut - ein Angriff auf Menschen und ihre Bedürfnisse

Diese Stadt hat am Freitag einen schweren Schlag erlitten. Ein Angriff auf das Petit Cambodge, das Carillon, das Casa Nostra, das Café Bonne Bière, das Belle Équipe, das Comptoir Voltaire, das Bataclan, das Stade de France. Ein Angriff auf Bars, ein Konzerthaus, eine Sportstätte. Ein Angriff auf das Selbstverständnis einer Stadt, auf Menschen, die Geselligkeit genießen; die Musik hören, sich unterhalten, ihr Team anfeuern. Ein Angriff auf Menschen und ihre menschlichen Bedürfnisse. Wie auch vergangene Woche bei dem Anschlag auf ein Einkauszentrum in Beirut, bei dem über vierzig Menschen starben.

Doch davon war am Tag nach dem Anschlag nicht die Rede. „Hier geht es um uns. Um die Art wie wir leben“, titelt die Welt. „Es gibt keinen Zweifel, was die Terroristen treffen wollten: Uns. Unsere Freiheit, unsere Werte“. Doch was meinen sie mit „wir“? Was sind „unsere Werte“? Ist die Geselligkeit nur unser Wert? „Attacke auf unsere Kultur“ titelt die Frankfurter Allgemeine: „Es geht also, wenn Bars, Cafés, Restaurants angegriffen werden, wenn ein Konzert gestürmt und die Besucher ermordet werden, nicht nur um unsere Art zu leben. Es geht um unsere Kultur.“

Was ist „unsere Kultur“? Ist Tanz und Musik nur unsere Kultur?

War der NSU kein Angriff auf "unsere Werte"?

Ein Angriff auf unsere Kultur – ist es wirklich das, was passiert ist? Was wäre, wenn Cafés in Istanbul, Kneipen in Odessa, Teehäuser in Osaka, Pizzerien in Delhi, Konzertsäle in Bogotá, Tanzläden in Taipeh oder ein Fußballstadion in Johannesburg angegriffen würden? Ginge es dann nur um „deren“ Kultur?

Was wäre, wenn auf der Oranienstraße oder in der Simon-Dach-Straße geschossen würde? Wäre das ein Anschlag auf unsere Werte?

Als der NSU ein Jahrzehnt lang mordend durch Deutschland zog, war das ein Angriff auf unsere Werte? Sind die Dönerläden, Blumenstände, Schneidereien, Gemüseläden, Schlüsseldienste, Kioske und Internetcafés nicht auch fest in unserem kulturellen Selbstverständnis verankert? Und ist Neonazi-Ideologie nicht genauso lustfeindlich, entmenschlichend und streckbankstramm wie dschihadistische Doktrin?

Es geht hier um die Kultur aller

Die Anschläge in Paris waren Anschläge auf kulturelle Einrichtungen, auf Kultur. Aber nicht auf unsere. Zumindest nicht nur. Es geht hier um die Kultur aller. Der 13. November war ein Angriff auf Kultur im Ganzen, auf Menschen, die sich begegnen im Speziellen – auf Leben im öffentlichen Raum.

Es ist vermessen, die Opfer posthum zu Märtyrern für „westliche“ Werte – und darum geht es ja – zu machen. 129 Menschen wurden getötet, weil sie sich in der Öffentlichkeit ausgetauscht haben, sich unterhalten haben, weil sie tanzten und Musik hörten. Das sind keine westlichen Werte, das sind grundlegende Bedingungen menschlichen Daseins.

Die Anschläge von Paris berühren viele Menschen auch hier. Paris ist nah. Die Stadt ist Berlin nicht wesensfremd, in ihrem Anspruch, weltstädtisch und bunt zu sein, schon seit Jahrhunderten und bis heute. Paris ist eine der meistbesuchten Städte der Welt, Menschen aus allen Ecken der Erde reisen an, lieben und verfluchen sie. Die wohl bunteste, weltgewandteste und gemischteste Stadt Kontinentaleuropas wird angegriffen – und die Reaktion ist Spaltung. Das ist das Gegenteil von dem, was Paris symbolisiert.

Eine Wertediskussion darf nicht brüllend geführt werden

Noch vor wenigen Tagen konnte man in Frankreich ähnliche Debatten zu den „Werten der Republik“ verfolgen, die verteidigt werden müssen. Zur „französischen Kultur“, die geschützt werden muss. Nicht vor dem IS, sondern vor der Zerstörung durch „Parallelgesellschaften“ in genau solchen Vierteln wie dem 10. und 11. Arrondissement.

Eine Diskussion über Werte, über Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen und was eine Bedrohung für sie ist, muss besonnen geführt und nicht reflexhaft herausgebrüllt werden. Jetzt den Kampf der Kulturen auszurufen, wie es in Eckkneipen und Facebook-Pinnwänden schon lange üblich ist, bedeutet, die eigene Kultur nicht zu begreifen.

Die Fluidität von Grenzen, die Selbstvergewisserung und der andauernde Dialog machen – und darüber lässt sich herrlich streiten – unsere Kultur aus. Die Stärke, Menschen aufzunehmen, ein transnationales Zivilisationszentrum wie Paris möglich zu machen.

„Unsere Kultur“ – das kann auch bedeuten, eine Bevölkerung so miteinander zu verweben, dass der Angriff auf ein kambodschanisches Restaurant und eine italienische Pizzeria in einem afrikanisch-chinesisch-arabisch geprägten Viertel als Angriff auf französische Werte empfunden wird.

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