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Kultur: Teuflisch gut All’ mein Begehren, all’ mein Verlangen

KLASSIK

Drei Uraufführungen, drei Experimente: Berlins alternative Opernszene sucht Inspiration bei Schumann, Hölderlin und Ovid

Ein Geiger, der besser spielt als andere Geiger, wird gern ein Teufel auf der Violine genannt. Bei Vadim Repin , dem Wundergeiger aus Nowosibirsk, ist das von schwarzer Magie raunende Künstlerlob eigentlich unangebracht, weil er eher wie ein seriöser Engel spielt. Das heißt nicht, dass ihm jene Virtuosität, die der Teufel womöglich den Seinen spendet, abginge. Repin beherrscht Doppelgriffe in jeder Geschwindigkeit und blendende Flageolettvirtuosität, ohne ein Blender zu sein. Das zeichnet die Art aus, mit der er an das d-Moll-Konzert von Jean Sibelius im Konzerthaus herangeht: Ein interpretatorischer Ernst, dem akrobatischer Selbstzweck fremd ist. Das romantische Stück auf der Schwelle des 20. Jahrhunderts wird von Repin mit blühender Klanglyrik und unforciert tragendem Tonvolumen erfüllt. In seiner Sibelius-Interpretation schlummern der Tschaikowsky- und der Mozart-Spieler.

„Tapiola“, eine Tondichtung von Sibelius, die der Wohnung des finnischen Waldgottes huldigt, fordert weder den analytischen Verstand noch das dirigentische Feuer eines Michael Gielen heraus. Er buchstabiert mit dem Zeigefinger. Con brio aber stürzt er sich in die fünfte Sinfonie Beethovens, formuliert deren innere Dynamik aus, hofiert der Oboistin bei ihrer Adagio-Stelle in der Reprise des ersten Satzes und den tiefen Streichern im Andante, setzt vitale Zeichen im Fugato des Trios und leitet schließlich mit kontrollierter Freiheit in den attacca anschließenden Finalsatz über. Ein gewöhnungsbedürftiger Maestro für manche Orchester, darf Gielen sich als Erster Gastdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters mit dieser Beethoven-Interpretation bei den Musikern voll verstanden fühlen.

Von Frederik Hanssen

Dreihundert Augenpaare wandern nach oben: Mit beunruhigendem Knirschen bewegt sich ein riesiger Container über die Köpfe der Zuschauer hinweg, rastet knackend in der Sicherheitsvorrichtung ein und beginnt dann herabzuschweben. Bei der Premiere von „Philemon und Baucis“ im Magazingebäude der Berliner Staatsoper hängt das Publikum im wahrsten Wortsinn zwischen Himmel und Hölle. Wie eine Basilika ist das Lagerhaus vis-à-vis der Hedwigskathedrale konzipiert: Im hoch aufragenden „Mittelschiff“ lassen sich Dekorationen und Bühnenbildteile über Frachtfahrstühle in lichte Höhen heben, wo sie dann in den „Seitenschiffen“ auf mehreren Ebenen hinter Stahltüren verstaut werden. Für die von Intendant Peter Mussbach erfundene „Satelliten“-Reihe wurde auf halber Höhe ein Podest eingezogen, das den Besuchern den atemberaubenden Blick auf die Stahlskelettkonstruktion gestattet, die von den Darstellern in Immo Karamans Inszenierung flächendeckend beturnt wird, während das Orchester unsichtbar in der Tiefe agiert.

Das Magazingebäude der Lindenoper ist genau das, was man derzeit unter einer hippen Location versteht. Die schiere Größe erinnert an Industriearchitektur, der blätternde Putz, die speckigen Wände, die Neonröhren wirken wie von der Marthaler-Bühnenbildnerin Anna Viehbrock erfunden, der alte DDR-Geruch, der sich in den Hinterzimmern gehalten hat, veredelt den schmucklosen Profanbau mit dem Parfum süßer Nostalgie. Hier soll die Zukunft des Musiktheaters angepackt werden, wünscht sich der Intendant, im Hinterhof der großen Oper will er sich das leisten, was im Vorderhaus Unter den Linden ausgeschlossen scheint: Experimentelles, Ungewöhnliches, Neues. Künstler wie Mussbach, die seit dreißig Jahren im Subventionstheater arbeiten, leiden am Korsett, das der Kunst angelegt werden muss, damit ein Opernhaus als gigantische Reproduktionsmaschine funktionieren kann. Kreatives, gemeinschaftliches Arbeiten an Novitäten ist fast unmöglich, wo Verwaltungsvorschriften den Kreativitätsrhythmus diktieren. Darum dürfen sich, während im großen Saal Geld verdient wird (am Premierenabend lief parallel Donizettis „Liebestrank“) im Magazin Nachwuchstalente ausprobieren.

Den Studenten der kooperierenden Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ bescheren die „Satelliten“ tolle Erfahrungen und auch das Publikum dürfte den neuen Spielort stürmen, weil dekadentes Ambiente derzeit nun einmal Mode ist – die Staatsoper selber aber lügt sich mit dem Projekt in die Tasche. Zumindest, wenn das Ergebnis so aussieht wie am vergangenen Sonnabend: Immo Karaman veralbert Joseph Haydns „Philemon und Baucis“ nach Strich und Faden, macht aus dem 1773 für Schloss Esterhazy entstandenen Puppenspiel eine zweistündige Muppets Show. Nachdem der Reiz des Aufführungsraums verflogen ist, also ungefähr nach zwei Minuten, hält den Zuschauer allein die Frage wach, ob es den Akteuren bei all dem Gehampel gelingen wird, nicht von der in mindestens zehn Metern Höhe schwebenden Spielplattform zu stürzen.

Knittelverse in Arkadien

Oper als Quatsch-Comedy-Club ist aber so ziemlich das Langweiligste, was man dem geneigten Besucher in einer Experimentier-Reihe vorsetzen kann. Daran ändert auch die kleinteilig-wuselige Geräuschkulisse nichts, mit der Konstantia Gourzi Haydns Opernfragment aufgeplustert hat. Zweifellos ist das Original mit seinem sozialsatirischen Knittelvers-Prolog und dem aufreizend schicksalserbebenen Seniorenpärchen in arkadischer Kulisse nicht leicht zu knacken. Wie stark aber sind die Themen: Wenn Zeus, der alle Menschen für korrupt und egoistisch hält, ausgerechnet bei den sozial Benachteiligten auf Demut stößt, auf spontane Gastfreundschaft und auf eine innige Liebe, die Leid gemeinsam erträglicher macht, warum sollte dann der Göttervater nicht tatsächlich gerührt für einen Moment von seinem Thron steigen und den Alten tröstend seinen Arm um die Schulter legen, wie es Ovid beschreibt? Warum muss er die Stulle, die Baucis ihm mit dem letzten Rest Leberwurst bestreicht, angeekelt im Fußbad-Zuber versenken? Hätten die „Satelliten“-Macher weniger über die technisch reibungslose Bespielung des spektakulären Ortes nachgedacht, sondern mehr über die Gedankenwelten hinter der putzigen Divertissement-Fassade, sie wären vielleicht zu einem anderen Ergebnis gekommen.

So wie die Berliner Kammeroper und die Neuköllner Oper, die sich jetzt fast zeitgleich an ähnlich riskanten Sujets versuchten, allerdings mit jener Konzentration und Ernsthaftigkeit, wie sie die Vordenker des Musiktheaters schon länger einfordern. Nur wer klar macht, dass es bei jeder theatralischen Entäußerung um Leben und Tod geht, hat für den Regisseur Peter Konwitschny das Recht, auf einer Bühne zu stehen. Das Aufbegehren gegen jene, die Wertvorstellungen als Gedankenschrott deklarieren, treibt den Festivalmacher Gerard Mortier an: Weil er hofft, Sinnsuchenden durch Kunst eine Hilfestellung beim Sensibilisieren der Wahrnehmung geben zu können, initiierte er bei seiner ersten Ruhrtriennale einen Zyklus inszenierter Lieder. In diese Richtung geht auch Kay Kuntze mit „Geliebtes Klärchen“ im Hebbel-Theater. Es geht um die größte Liebe der Musikgeschichte, um Clara und Robert Schumann. Die Versuchsanordnung ist äußerst streng, allein Selbstzeugnisse der handelnden Personen und die Musik müssen ausreichen, um das komplexe Beziehungsgeflecht anzudeuten. Diese Pianissimo-Dramaturgie aber passt zu den ausgewählten Kompositionen (Pianist Philip Mayers sitzt mit auf der Bühne) ebenso wie zur biedermeierlichen Scherenschnitt-Ästhetik der Ausstattung. Äußerst sparsam arbeitet Kuntze mit Symbolen, lässt seine Akteure immer nach Innen spielen und versetzt so den Zuschauer in einen emotionalen Schwebezustand, ermöglicht ihm, sich wieder für die sanfte Poesie der romantischen Kunstlieder zu öffnen.

Ganz anders, aber nicht weniger konsequent, ist der Zugriff der Neuköllner Oper auf Friedrich Hölderlin. Weil sich die Bühne in der Karl-Marx-Straße immer noch als musikalische Volxküche versteht, wird hier verfremdet, legt Regisseurin Gabriele Jakobi die oft so hermetischen Texte des Mannes, der sich in seinen späten, düsteren Jahren Scardanelli nannte, einem Straßenfeger (Nino Sandow), einer Obdachlosen (Brigitte Röttgers) und einem Raben (Michael Hoffmann) in den Mund. Hasstiraden gegen den deutschen Spießer, metaphernmächtige Elogen auf das antike Griechenland und heißes Liebessehnen nach seiner Muse Diotima mischen sich zu einer intimen Textcollage. Der sprachlichen Dichte des Dichters setzt Nino Sandow einer betont einfache Musik entgegen. Meist geistern nur ein paar elektronische Töne durch den Raum, Klavierklänge fallen herab wie das herbstliche Laub, das die kleine Kammerbühne bedeckt.

Der Nachhall der Stille

Traumverloren setzten die Darsteller ihre Texte darauf, lassen die Worte verklingen, fallen mal in eine Rumba oder einen Rap, um gleich wieder zurückzukehren in die Stille. Warum, fragt dieser konzentrierte, 90-minütige Monolog zu dritt, sollen wir den Schleier lüften, wenn rätselhafte Worte einen viel längeren Nachhall haben? Warum sollen wir denunzieren, was uns vielleicht naiv erscheint? Noch leicht benommen, vermeint der Besucher auf dem Heimweg aus der Ferne den Schlachtruf dieser neuen Ernsthaftigkeit zu hören: Entdecke deinen Himmel Zeus – unter Wolkendunst!

Philemon und Baucis an der Staatsoper: 29. und 30.4., 2. und 3.5.

Geliebtes Klärchen im Hebbel-Theater: 29. und 30.4.

Scardanelli in der Neuköllner Oper: bis 31.5.

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