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Kultur: Theater als Therapieform für kriegstraumatisierte, israelische Patienten

In einem Moment geht ein Schock durch den Saal des Theaters Heilbronn bei der Uraufführung von "Die Ermordung des Isaak". Der israelische Dramatiker Motti Lerner lässt zwei orthodoxe Talmudschüler um Mitternacht nach der Ermordung von Ministerpräsident Rabin "das traditionelle jüdische Ritual der Grabbewässerung" vollziehen.

In einem Moment geht ein Schock durch den Saal des Theaters Heilbronn bei der Uraufführung von "Die Ermordung des Isaak". Der israelische Dramatiker Motti Lerner lässt zwei orthodoxe Talmudschüler um Mitternacht nach der Ermordung von Ministerpräsident Rabin "das traditionelle jüdische Ritual der Grabbewässerung" vollziehen. Die in Schwarz gekleideten Schauspieler gürten sich riesige Penisse um die Hüften und pinkeln aus denen auf Rabins Grab. Aber was in Deutschland als eine unerhörte Provokation gilt, ist an Rabins Grab in Jerusalem tatsächlich geschehen. Vielleicht liegt hier die Erklärung dafür, warum ein so brisantes, aktuelles Stück nicht in Israel, sondern in Deutschland aufgeführt wird. Kriegstraumatisierte Patienten einer israelischen Rehabilitationsanstalt setzen sich in Form eines Theaterstückes mit der Ermordung des Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin auseinander. Im Rahmen ihrer Gruppentherapie führen sie den Mord an Rabin auf. Die Anstalt dient als ein Mikrokosmus der israelischen Gesellschaft mit Patienten wie Isaak und Leah, Benjamin (Netanjahu), dem nationalreligiösen Jigal (der den Mörder spielt) und einem Chor aus Demonstranten, Bodyguards und Rabbinern. Zunehmend weichen die Laienschauspieler von ihrem Text ab und geraten in hitzige politische Konflikte und in die Dynamik der Fanatisierung, die sie eigentlich darstellen wollen. Ihre Aufführung endet mit einer Katastrophe. Der Tel Aviver Dramatiker Motti Lerner lehnt sich sehr stark an die israelische Politik an, versucht aber zugleich, sich mit religiösem Fanatismus und politischer Gewalt überall auf der Welt auseinander zu setzen.

Das Kameri Stadttheater von Tel Aviv bestellte das Stück bei Lerner im November 1997. "Ich habe alle meine Hoffnungen auf Rabin gesetzt, und daher war seine Ermordung ein großer Schock", sagt er. Während der Recherchen traf sich der Autor mit Lea Rabin und verschiedenen Siedlern, studierte Videoaufnahmen der Untersuchung des Attentäters und stellte fest, "dass ich mit den Siedlern keine Versöhnung mehr suche und keine gemeinsamen Werte mehr finde", so Lerner. "Sie sind gegen Demokratie und Menschenrechte und werden immer für Konflikte mit den Palästinensern sorgen. Daher muss man sie evakuieren. Ich habe dieses Stück geschrieben, um zu erklären, warum sie keinen Frieden wollen." Nachdem das Kameri Theater die Aufführung mehrfach verschoben hatte, fand das Theater Heilbronn Interesse daran, und so kam die Priemere gerade dort heraus. "Das Stück zeigt, wie zerstörerisch Macht und Gewalt sind - überall", sagt Regisseur Johannes Klaus. Und Intendant Klaus Wagner betont, dass die Freundschaft des Hauses zu Israel gerade eine Auseinandersetzung mit seinen Problemen bedeutet. Und an Problemen mangelt es hier wahrlich nicht. In seiner Enttäuschung über die Netanjahu-Regierung verfasste Lerner eine deutliche und krasse Anklageschrift gegen die Rechten, die Nationalreligiösen und die Ultraorthodoxen, die alle ein Friedensabkommen ablehnen und Gewalt gegen Araber befürworten, die sie als Untermenschen betrachten. Da die "Patienten" zu gut in ihre Rollen schlüpfen, entsteht bald ein fast dokumentarisches Stück mit plakativen Figuren. Isaak wird zu Rabin, der einsam und mutig seine Botschaft des Friedens und seinen Glauben an Vernunft und Rechtsstaatlichkeit bis zuletzt nicht verliert. Sein Rivale Benjamin (Netanjahu) überzeugt als ein lauter, aggressiver und schlauer Politiker, der keine Werte außer Macht kennt. Genauso schlimm sind die Rabbiner, die den Krieg befürworten, der ihnen viele Arbeitsplätze bei der Beerdigungsgesellschaft verschafft. "Nun werden die Ungläubigen uns sogar bei ihrem Tod ernähren", sagt der Rabbi. Der Attentäter Jigal Amir betrachtet sich als Handlanger Gottes, will aber zugleich einer attraktiven Siedlerin imponieren, die ihm nur dann "Judäa und Samaria" (ihre Plastikbrüste) als auch "Gaza" (ihren Schoß) verspricht, wenn er den Isaak mit einem großen Knall tötet. Die Übersetzerin Ruth Melcer hat zu Recht viele biblische Hinweise aus der hebräischen Fassung gekürzt, die das Publikum nur verwirrt hätten.

Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass das israelische Nationaltheater Habima Joshua Sobols Stück über Rabins Ermordung ("Der König des Kasinos") abgelehnt hat, wie Kameri auch aus künstlerischen Gründen. Auch Sobols Werk hätte einen Skandal verursacht. Diese Woche sagte Sobol, er möchte sein "spontanes Werk" nicht mehr aufführen. Dabei wirft die Ermordung Rabins vor vier Jahren immer noch Schatten auf die israelische Gesellschaft. Gerade diese Woche ließ Tel Avivs Bürgermeister eine neue Gedenktafel abmontieren, weil religiöse Politiker gegen den Text protestierten, dass Rabin "von einem Juden ermordet wurde, der eine Kopfbedeckung trug". Bei der diesjährigen Trauerkundgebung forderte Rabins Familie, die Untersuchung des Mordes aufs Neue aufzurollen. Lea Rabin sagte, sie selbst habe "keine seelische Kraft", um dafür zu kämpfen, "aber meine Kinder schon". Rabins Tochter Dalia erklärte, dass die Familie zunächst ganz mit der tiefen Trauer beschäftigt war und so erst später immer mehr offene Fragen entdeckte "über die unerträgliche Leichtigkeit des Mordes". Sie habe "ein dickes Dossier mit Fakten und Unterlagen", die sie bisher nicht erklären konnte. Ihr Bruder Yuval wollte die Menschen entlarven, die dem Attentäter "ideologische und politische Rückendeckung" gaben, aber auch um dem Gerücht der Konspiration (dass der Geheimdienst hinter dem Attentat gestanden habe) ein Ende zu setzen.

Der neue Film von Assi Dayan "Anleitung zum Arschretten", eine vernichtende Kritik an den reichen, satten, selbstzufriedenen und kapitalistischen Friedensaktivisten, zeigt vor allem, wie schnell in Israel "heilige Kühe" geschlachtet werden.

Igal Avidan

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