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Theater: Auferstehung nicht ausgeschlossen

Dem Orphtheater in der Ackerstraße, seit 1990 Off-Bühne und Experimentierfabrik, droht das Aus. Ein Besuch in der Unterwelt.

An der Haustür steht, was an jeder Haustür stehen sollte, in großen roten Buchstaben: „Der Tod ist ein Irrtum.“ Dahinter beginnt Matthias Horns Reich. Ein Hinterhof, der aussieht, als wäre die DDR noch gar nicht zu Ende. Ackerstraße, BerlinMitte. Blätternder braungrauer Putz und Verfall, dazwischen erstes zartes Hoffnungs-Pappelgrün, es riecht nach Kohleheizung. Ein gutes Entree für die Kunst im hofeigenen Fabrikschuppen. Das Orphtheater, also Orpheus’ Unterwelt mit anderen Mitteln, eine Gegenwelt.

Der Intendant des letzten der alten Berliner Off-Theater sitzt selbst hinter der Abendkasse, mit Basecap und Sonnenbrille im Halbdunkel. Denn man darf sich gar nicht erst von äußeren Lichtquellen abhängig machen. Jeder trägt seine eigene Sonne in sich. Ohne die hätte Matthias Horn, Schauspieler, Jahrgang 1962, nie das Orphtheater mitgegründet, gleich 1990, noch in der DDR. Und begonnen hatten sie schon früher, zu viert, neben ihren Engagements an den staatlichen Bühnen.

„Der Tod ist ein Irrtum“ ? – Wer weiß!, denkt wohl gerade die Senatskulturverwaltung, die Mitte dieses Monats über die weitere Förderung der freien Berliner Theaterszene ab 2009 entscheidet. Oder eher über aktive Sterbehilfe, wie die Orphtheatermacher nun fürchten.

Das letzte Stück des Orphtheaters heißt „Todesanzeige“. Es verdichtet die letzten düsteren, auch galgenhumorigen Texte Heiner Müllers zu einer atemlosen theatralischen Dauerexplosion. Mit großem Chor und drei Totengräbern, Kaspar, Tod und Teufel. Eine kämpfende Einheit auf der Spur der letzten Träume eines verwesenden Idealisten – denn sogar Idealisten verwesen. Kann sein, Heiner Müller hätte es gefallen. Die „euro-scene Leipzig“, das Festival des europäischen Avantgarde-Theaters 2008, hat „Todesanzeige“ schon eingeladen. Nur die Kulturverwaltung, die eine eigene Jury für freie Theater unterhält, hat es nicht gesehen. Und auch sonst fast nichts, sagt Matthias Horn, gemessen an den 35 Premieren in den letzten vier Jahren.

Und gelesen hatte sie wohl auch nichts, als sie die Orphtheaterleute im Februar zur Anhörung über ihre weitere Förderungswürdigkeit vorlud. Vertreter der Jury und Senatsmitarbeiter fanden, da die Antragsteller schon einmal hier seien, könnten sie ihr Konzept gleich selbst vortragen.

Und so sprachen sie denn vom Sterben und Wiederauferstehen. Siehe Müller. Siehe Orpheus. Siehe sie selbst. Siehe die letzten Stunden der kommerziell zerstörten Punkidole Sid Vicious und Nancy Sprungen im New Yorker Chelsea Hotel, eine Premiere des letzten Jahres. Schriller Abgesang auf jene beiden, auch auf sich selbst. Wer wiederkehren will, auch aus der eigenen Unterwelt, muss den eigenen Namen – den man sich gemacht hat – vergessen können und die Urangst eines jeden Menschen und Schauspielers aushalten: keine Rolle mehr zu spielen.

Folgerichtig heißt das übernächste, theaterübergreifende Projekt „Der arbeitslose Körper des Schauspielers in Bewegung“. Bald wird die Bühne in der Ackerstraße zum Schauplatz eines sehr realen Castings werden, das aber – sagt Horn – eine Besonderheit besitzt: Jeder arbeitslose Schauspieler wird genommen. Und dann inszenieren sie in Großgruppen die einzelnen Körperteile des arbeitslosen Schauspielers, und jeder Körperteil bekommt einen Regisseur, eine eigene Sprache. Die Theatraliker überlegen, diese atmende Großplastik vorm Deutschen Theater auferstehen zu lassen.

Und so sprachen sie weiter unter den kühlen Blicken der Behörde, vom Sterben und Auferstehen als Methode, als Konzept, bis diese fragte, ob das alles nicht etwas „leer“ und „formalistisch“ sei. Matthias Horn kennt das noch aus der DDR: Wenn dir jemand Formalismus vorwirft, bist du erledigt. Formalismus ist gleich bürgerliche Dekadenz ist gleich Ende. Aber gibt es ein leeres Sterben, eine formalistische Auferstehung? Oder meinten sie etwa Horns Inszenierung von 2007, „Die Reichsgründer mit Schmürz“, diese Geschichte einer verzweifelten Flucht vor einem nicht ortbaren Geräusch, dem Schmürz eben? Ist das Schmürz ein Formalismus? Es ist höchste, unerträglichste Realität, es schmürzt.

„Und dann haben sie noch gefragt, ob wir nicht lernen wollten, auf eigenen Füßen zu stehen“, sagt Horn. Einen wie ihn haben sie das gefragt, einen, der alle Risiken der Freiheit lebt und Verträge mit festen Häusern schon mal nicht unterschreibt, wenn ihm etwas sehr gegen den Strich geht. Der Prosabeiträge fürs Radio spricht und Computerspiele synchronisiert, um frei zu sein für das, was er wirklich will: die Eigenverantwortung, den ganzen „Bettlerluxus“ eben. Die 60 000 Euro Basisförderung decken nicht viel mehr als die Betriebskosten und Aufwendungen des Theaters. Auch andere Berliner Gruppen wie die Theaterkapelle in der Boxhagener Straße und das Theaterhaus Mitte am Koppenplatz – sonst auch gern der „Reichtum dieser Stadt“ genannt – sind gefährdet.

Es waren schon mal viel mehr als 60 000 Euro für das Orphtheater. Aber ohne die? Wir haben uns lange gehalten, lächelt Matthias Horn. Er trägt inzwischen statt Basecap und Sonnenbrille eine Mullbinde um den Kopf. Der Intendant zählt zu den Menschen, denen fast alles steht und die so gewiss auch auf die Straße gehen würden. Virtuell kultursenatsversehrt? Doch die Binde gehört schon zum nächsten Stück. Genau wie die Stehlampe, die Nähmaschine und das alte Sofa auf der Bühne. Ein Paar unter Einfluss – eigener und anderer Unwirklichkeiten. Auf der Suche nach dem coil, der einen kleinen Bewegung, die das ganze Leben ändern könnte. Ist so ein coil formalistisch?

„Coil. Die Auferstehung“ hat am 22. Mai Premiere. Dann sind die Senats-Todesanzeigen wohl längst verschickt.

Ackerstr. 169/170, Mitte. Infos: www.orphtheater.de

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