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Theater: Aufmarsch der lebenden Toten

Wedekinds „Musik“ im Deutschen Theater. Ein Stück mit hitzigen Dialogen.

So ganz sicher war sich Frank Wedekind mit „Musik“, seinem „Sittengemälde in vier Bildern“, nicht. Er versuchte, das 1906 entstandene Stück zu erklären, mit Briefen, Einführungen. Der Dichter hatte, wenn auch mit parodistischer Absicht, entfesselte Emotionen auf die Bühne gebracht: Die Gesangsschülerin Klara Hühnerwadel lässt sich von ihrem Lehrer schwängern, treibt ab, fällt damit unter den Paragrafen 218 und kommt ins Zuchthaus. Befreit durch fürstliche Gnaden, kehrt sie zum „Privatunterricht“ zurück, wird erneut schwanger, bringt nun das Kind zur Welt. „Seligkeiten der Mutterschaft sänftigen und erschüttern sie. Das Wurm stirbt, sie wird gemütskrank“ fasst Alfred Kerr in seiner Kritik vom 13. Dezember 1918 zusammen.

Was aber ist heute mit diesem schwülstig aufgeladenen Schicksal anzufangen? Thomas Schulte-Michels entdeckt in den Kammerspielen des Deutschen Theaters nur Gleichgültigkeit. Die Damen und Herren, geschmackvoll gekleidet (Kostüme: Ursula Welter), gehen „gebildet“ miteinander um. Gefühle gibt es keine. Einsamkeit umgibt die Figuren. Auch wenn am Ende Tragik hervorbricht, vermag das kein Interesse hervorzurufen. Man geht weg.

Eine Lösung für das Stück mit seinen vielen hitzigen Monologen? Gerade den von Brecht bewunderten „immensen Schwung“ der Sprache Wedekinds hat der Regisseur gestutzt. Er breitet Langeweile aus, die auch vom Publikum Besitz ergreift. Die Bühne (Christoph Schubiger) bleibt fast leer, die beiden Akte beim Gesangspädagogen spielen vor tiefrotem Samtvorhang, für das Gefängnis und die Dachstube öffnet sich der Raum in bedrückende Leere. Leer bleiben die Figuren, sie stehen herum, sind schon Tote, hervorgeholt aus vergangener Welt. Keine Aufregung, nirgends. Wenn da nicht Kathrin Wehlisch als Klara wäre, die nicht das dumme Ding spielt, sondern eine verführerische Frau. Die Schauspielerin zeigt eine Würde, die das monströse Frauenschicksal adelt, auch in den wenigen Ausbrüchen, die der Regisseur dem beruhigten Geschehen zugesteht.

Alle anderen Darsteller haben sich dem geschmackvoll Modischen der Inszenierung zu stellen. Jörg Gudzuhn macht den Gesangspädagogen zu einem Muster an Beiläufigkeit. Christine Schorn als seine Gattin darf fraulich-mütterlich vibrieren. Bernd Stempel verleiht dem Literaten Linder debilen Fanatismus; der Moralist resigniert vor den Ränken der Welt. Gute Schauspieler also, auch in den kleinen Rollen. Aber sie sind abgebremst. Die Inszenierung hat kein Feuer, kein Temperament. Zu Ironie kann sie sich nicht entschließen, auch nicht beim hereinbrechenden tragischen Verhängnis mit dem im zusammengerafften, heruntergerissenen Samtvorhang verfremdet vorstellbaren toten Kind.

Wieder am 21. und 24. November.

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