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Theater: ''Clavigo'': Liebe im Viereck

Roger Vontobels "Clavigo" zeigt Mitte-Männer in Dauerkrise. Christine Wahl über einen blutleeren Abend im Gorki-Theater.

Vor zweieinhalb Wochen war im Maxim- Gorki-Theater der Ingenieur in der Midlife-Crisis dran: Mit einem soliden Wohlstandsbauch, den er gern auch mal freilegte, stolperte Walter Faber alias Peter Kurth frei nach Max Frisch in eine Affäre mit seiner fast noch minderjährigen Tochter. Jetzt hockt der aufstrebende Schreiberling Clavigo weinerlich am Pranger. Das semitransparente schwarze Hemd mit Folklorestickerei, in dem er dabei steckt, zitiert das fragwürdige Klischee vom feurigen Spanier sozusagen auf Augenhöhe. Die Dramaturgie des Gorki-Theaters scheint einige Abstraktionsstufen lässig im Siebenmeilenschritt genommen zu haben und fand für seine beiden großen Novemberpremieren die schmissige Globalklammer: „Männer in der Krise“.

Kann man so sagen! Vom Folklorehemd abgesehen, sind die Flamencoschritte, die Clavigo mit seiner Exfreundin Marie zu Stückbeginn hüftsteif an die Rampe tänzelt, das Einzige, was in Roger Vontobels Goethe-Inszenierung vom Schauplatz Madrid übrig ist. Sieht eher aus, als hätte das Paar seine choreografischen Kenntnisse in einer Tanzschule in Berlin-Mitte erworben. Auf Mitte-Affinität deutet auch der Rest des Szenarios: Claudia Rohner hat einen langen, über die Rampe ragenden Holztisch auf die Bühne gestellt, der ausreichend Platz für sämtliche Coffee-to-go-Pappbecher bietet, die sich bei den Lifestylisten rund um den Hackeschen Markt im Laufe eines Tages so ansammeln.

Eigentlich hatte der Jungjournalist Clavigo (Paul Herwig) die französische Migrantin Marie (Hilke Altefrohne) – nachdem er vollmundig von Heirat poetisiert und Marie daraufhin diverse andere „ansehnliche Partien ausgeschlagen“ hatte – ja schon verlassen. Sein Freund Carlos (Gunnar Teuber), der sich als analytischer Berater versteht und bei Vontobel sicher in der Film- oder Werbebranche sein Geld verdient, weil er jeder Wortgruppe ein versuchsweise weltmännisches „Fuck“ nachschiebt, riet Clavigo aus Karrieregründen von der Heirat ab.

Bei Goethe taucht an diesem Punkt Maries Bruder Beaumarchais auf, um „die betrogene Schwester“ zu rächen – und hat dabei alles im Gepäck, was die Gorki-Dramaturgie möglicherweise meint (?), wenn sie von den kriselnden „männlichen Kategorien“ spricht: Machismo, Patriotismus und ein unerschütterliches Bewusstsein für die Familienehre. Beaumarchais zwingt Clavigo zu einem schriftlichen Bekenntnis seiner Verfehlung, wobei der Journalist wieder wankelmütig wird und Marie nochmals einen Heiratsantrag macht, um sie dann erneut zu verlassen.

Weil nun aber im Berlin-Mitte des Jahres 2008 nicht nur die Clavigos, sondern auch die Beaumarchaises in der Krise sind und patriotische Jungs, die sich an den schlaffen Liebhabern ihrer Schwestern rächen, schlecht zu Coffee to go, superhippen After-Work-Bars und Mitte-People-„Fuck“ passen, hat Vontobel den Bruder eliminiert – und mit ihm gleich noch ein, zwei andere Männer, die sich bei Goethe als Drahtzieher aufspielen, de facto aber nur zur marginalen Episodenfigur taugen. Die Sache mit dem Bekenntnis regelt die emanzipierte Mitte-Marie schon selbst: Hilke Altefrohne fällt – gemessen an der Situation relativ cool und unaufgeregt – im schulterfreien Schwarzen über ihren Ex her, fesselt ihn dabei mit Paketklebeband an den Holztisch und stellt selbigen dann senkrecht an der Rampe auf.

Der 1977 geborene Roger Vontobel, der mit „Clavigo“ sein Berlin-Debüt gibt, entwickelt das Drama also gänzlich aus dem Inner Circle heraus: Hier gibt es nur Marie, ihre schwesterliche Freundin Sophie (Katja Sieder), Clavigo und Carlos – wobei Sophies und Carlos’ Persönlichkeitsgrenzen quasi fließend sind. Immer wieder werden sie im Verlauf des 90-minütigen Abends zu einer Art abstrahiertem Double des Beziehungskrisenpaares, indem sie sich überdimensionale Puppenköpfe überstülpen und das Hauptbeziehungstheater sekundär kopieren. Liebe wird so als Projektion und Maries Gespräch mit Sophie auch als Dialog zwischen Über-Ich und Ich lesbar – getreu dem abgenudelten Goethe-Motto „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ oder dem genauso abgenudelten Rimbaud-Bekenntnis „Ich ist ein anderer“. So weit, so Mitte.

Vontobels Eingriffe sind massiv; und da beherzte Regiekonzepte ja bei Weitem nicht die Regel sind im Gegenwartstheater, lässt man sich erst mal nicht ungern darauf ein. Dennoch: Dass in jeder noch so sorgfältigen Dramenmodernisierung kleinere bis mittelschwere Ungereimtheiten bleiben, sei einmal dahingestellt. Schwerer wiegt, dass dem gern mal plakativ hinstürzenden und im Übrigen bewusst blassen Clavigo des Paul Herwig der „Mann in der Krise“ so derart dick auf die Stirn geschrieben steht, dass sein mehrfach geäußerter Grundkonflikt – soll der Mensch sich lieber selbst unglücklich machen, als einen anderen ins Unglück zu stürzen – im Grunde bloße Behauptung bleibt.

So sind die Sympathien von Anfang an klar verteilt, zumal auch ein Kumpel, der ständig „Fuck“ sagt, vom Regisseur eindeutig nicht als positives Rollenmodell besetzt ist. Hier also der entscheidungsschwache „Mann in der Krise“, dort die beherzte, tief fühlende Frau, der die Krise vom Schwächling aufgezwungen wird. Da könnte die emanzipierte Mitte-Marie, die ihren Ex fesselt und knebelt, schon Komplexeres vertragen.

Alles in allem handelt es sich um einen sehr konstruktionsbewussten und daher bisweilen recht blutarmen Abend, dem man deutlich den Willen zur großen Versuchsanordnung anmerkt. Braucht es unbedingt den guten, alten Goethe, um moderne Mitte-Männer „in der Krise“ zu sehen? Diese Frage ist jedenfalls bei Weitem nicht eindeutig mit Ja zu beantworten.

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