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Theater: Das sind die Sechziger

„Lass krachen, Alter“: Fünf ältere Herren suchen Kurt Cobain – und finden die eigene Biografie.

„Lass krachen, Alter“, steht in der Ankündigung. „Rentner treffen auf Kurt Cobain“, also auf den Sänger der legendären Band Nirvana, der sich als 27-Jähriger mit einer Schrotflinte umgebracht hat. Das war 1994. Seitdem hat sich nicht nur die Zahl der Plattenverkäufe vervielfacht, Cobain wird auch kultisch verehrt wie die meisten großen Frühverstorbenen. Und nun also das: „In dem Theaterstück“, heißt es weiter, „begeben sich fünf Rentner auf die Lebensspuren des jungen wilden Kurt Cobain. Die Tagebücher und Songs des Musikers dienen ihnen dabei als Inspiration, um Antworten auf ihre Lebenssituation zu finden.“

Ältere Menschen, die sich der Musik der sogenannten Jugend zuwenden – da denkt man natürlich sofort an The Zimmers, jene englische Rentnerband, die derzeit mit Coverversionen von The Who und einem Gesamtalter von 3000 Jahren die Charts stürmt. Oder an den Rentnerchor young@heart, der bei seinem Auftritt im Haus der Berliner Festspiele im letzten Jahr das Publikum zu Tränen rührte. Also hin, zur Probe!

Ein handtuchschmaler Probenraum im zweiten Stock eines Hinterhofes an der Schönhauser Allee. Fünf sportlich gekleidete Männer auf Socken, und das Erste, was man denkt: Das sind aber junge Rentner. Älter als Anfang 60 scheint hier niemand zu sein. Der jungenhafte Eindruck kann aber auch an der schulhofhaften Pausensituation liegen. Die Regisseurinnen Andrea Bittermann und Sylvia Moss, beide um die 40, richten etwas am CD-Spieler, während ein Schauspieler eine Anekdote erzählt, die die anderen – nach ihrem Augenrollen zu urteilen – offenbar schon kennen. Dann Aufstellung zur Revue-Linie und nachdem ein paar Schrittfolgen geübt werden, die entfernt an die Choreografien von „Popstars“ erinnern, reißen die Akteure die Arme in die Luft und schmettern mit beeindruckend vollen Stimmen den Schlager „Wunder gibt es immer wieder!“

„Volles Staatsopernpathos!“, peitscht Sylvia Moss ein. „Immer nach vorne gucken!“, ruft Andrea Bittermann. „Und wenn ich erschöpft bin?“, fragt Werner Daniel und lässt die Arme sinken. Abbruch und noch mal von vorn.

Die Idee, mit älteren Menschen zu arbeiten, kam Silvia Bittermann, einer hauptberuflichen Schauspielerin, als sie ihre Mutter ins Pflegeheim geben musste. Sie überzeugte ihre Kollegin Sylvia Moss von der Einzigartigkeit Kurt Cobains, und zusammen schalteten die beiden Anzeigen, in denen sie nach älteren Herren suchten, die „es krachen lassen wollten“. „Es sollte ja um Wildheit gehen und keine Senioren-Kita werden.“ Die Resonanz war überraschend. Die Interessenten waren jünger als erhofft (sechzig bis siebenundsechzig), und die meisten hatten schon Bühnenerfahrung – wie der ehemalige 64-jährige Polizist Peter Bach, der als Alleinunterhalter auftritt, oder der ehemalige Koch und DDR-Schlager- und -Operettensänger Klaus Doil, 62.

Kurt Cobain kannte keiner von ihnen, und dass ihnen der Sänger der Unbehaustheit auch nach monatelanger Beschäftigung fremd geblieben ist, zeigt schon der distanzierte Kommentar Joachim Gierings. „Für mich war die Musik von Cobain gewöhnungsbedürftig“, sagt der 60-Jährige. „Mittlerweile habe ich mir die ,Nevermind‘-CD des Öfteren angehört, um mehr von der Person zu verstehen, von der ich auf der Bühne erzähle.“ Giering, ein Medienpädagoge, der selbst in der Seniorenarbeit tätig ist, führt als Conferencier nicht nur durch den Abend, sondern auch durch das kurze Leben des Sängers: von seiner heimatlosen Jugend, über die frühen Erfolge bis zur Ohnmacht des Weltstars.

Wildheit ja, aber für Depression und Opferromantizismus hat hier niemand Verständnis. Die Nirvana-Klassiker „Smells Like Teen Spirit“ und „Come As You Are“ werden gesungen, aber lebensfrohe Schlager wie „Ich habe Musik im Blut“ sind in der Überzahl. Das Leben Cobains fungiert hier vor allem als abschreckendes Beispiel. Und als Katalysator, um von eigenen Krisen, vor allem aber von ihrer Bewältigung zu erzählen.

„Wir kannten“, sagt Sylvia Moss, „eigentlich nur die schweigenden Väter der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration. Wir wollten sprechende Männer kennenlernen!“ Freunde hatten abgeraten und ein Autoritätsproblem prophezeit. Außerdem würde keiner etwas von sich preisgeben. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Niemand ist trotz der langen Proben abgesprungen, und geschwiegen wurde auch nicht.

Bei der Inszenierung des reichhaltigen biografischen Materials kam es vor allem darauf an, die feine Grenze zwischen Persönlich und Privat zu wahren, die Schauspieler im Notfall vor sich selbst zu schützen und heikle Szenen gut einzubetten. Zum Beispiel mit einer Talkshow, in der es um Vor- und Nachteile von Gesichtsoperationen geht. „Alte Schlampen gehen gar nicht“, sagt Udo Boy, ein durchtrainierter Mittsechziger und plädiert für die Einrichtung einer „sogenannten Lebenskommission“. Der lautstarke Protest, den diese Aussage provoziert, geht schon in die ersten Takte des nächsten Liedes über – das schließlich für einen bewegenden Bericht ausgeblendet wird.

Allein auf leerer Bühne erzählt Klaus Doil von einer lebensbedrohlichen Krankheit. „Ich musste alles ändern. Meinen Beruf, meine Freunde, meinen Wohnort.“ Doil ist etwas unsicher, wann er sitzen und wann er stehen soll, aber er spricht mit fester Stimme, klar und ohne Anflug von Sentimentalität. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig“, zählt Sylvia Moss, um zu signalisieren, wie lange die Stille nach dem Text zu halten ist.

Da begreift man, warum sich Projekte mit älteren Menschen gerade großer Beliebtheit erfreuen. Weil ihre Lebensfreude kein albernes Dagegensein mehr nötig hat.

Heute sowie am 27. und 28. Juni im Theaterhaus Mitte (Koppenplatz 12)

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