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Manganiyar

© Lois Rosario

''Theater der Welt'': Auf der Suche nach dem Alphabet der Liebe

Das Festival Theater der Welt in Halle an der Saale entziffert zwei Wochen lang die Sprache internationaler Bühnen. 500 Künstler aus fünf Kontinenten sind in die Stadt gekommen, unter ihnen auch die Manganiyars aus Rajasthan.

„Malle statt Halle!“ Auf großen Plakaten entlang des Hallenser Stadtrings wirbt der örtliche Flughafen für seine internationalen Ferienverbindungen. Wer allerdings in diesen Tagen aus der sachsen-anhaltinischen Provinz in den Badeurlaub entschwindet, ist selber schuld. Halle hat mit dem „Theater der Welt“ (TDW) nämlich spannenden Besuch. Etwa in Gestalt der Manganiyars. Die Angehörigen einer Künstlerkaste aus Rajasthan eröffnen mit einer vom indischen Shakespeare-Spezialisten Roysten Abel inszenierten Konzert-Performance das Festival. Auf der Bühne des Opernhauses sitzen die 42 Musiker in einem mehrstöckigen Setzkasten, ein tanzender Dirigent leitet das Orchester aus Sängern, Sitarspielern, Flötisten und Trommlern. Es entspinnt sich ein mitreißendes, bis zur Ekstase gesteigertes Spiel aus Klängen und Licht.

Die Manganiyars sind Muslime, preisen in ihren Liedern aber auch hinduistische Götter, ein Gebet auf der Suche nach dem Alphabet der kosmischen Liebe. Rote Samtgardinen verbinden die einzelnen kleinen Bühnen zu einer einzigen großen. Und zitieren zugleich den westlichen Theatervorhang, der sich erst nach zwei Zugaben schließen darf. Ein dem Eröffnungsabend würdiges Bild.

500 Künstler aus fünf Kontinenten sind zum TDW nach Halle gekommen. 18 Tage lang werden 26 internationale Gastspiele gezeigt, darunter 14 Uraufführungen und 10 Europa- und Deutschlandpremieren. Und das in einer Stadt, die mit 234 000 Einwohnern die kleinste ist, in der das seit 1981 alle zwei bis drei Jahre vom Internationalen Theaterinstitut veranstaltete Festival jemals stattgefunden hat. Im Osten Deutschlands hat das TDW erst ein einziges Mal Station gemacht, 1996 in Dresden. Letzter Gastgeber war vor drei Jahren Stuttgart.

Allerdings hatte man dort doppelt soviel Geld zur Verfügung wie die Festivalmacher im von Geldsorgen geplagten Halle. Mit einem Budget von rund 2,2 Millionen Euro, das Bund, Land und Stadt zu gleichen Teilen tragen, machen Kurator Torsten Maß und Festival-Intendant Christoph Werner die alte Salz- und Schokoladenstadt dennoch souverän zur Weltbühne.

Maß, Theaterkosmopolit und langjähriges Leitungsmitglied der Berliner Festspiele, ist für die Programmierung zuständig, Werner ist der Verbindungsmann zum Lokalen. Seit 2005 leitet er das noch zu DDR-Endzeiten von Peter Sodann aufgebaute „neue theater“ auf der Kulturinsel, einem ganzen Häuserblock mit Bühnen, Clubs und Cafés.

An jeder Ecke ist Programm, insgesamt über 120 Vorstellungen. Es gibt Performances auf dem Flughafen und Interventionen auf dem Marktplatz. In dem von Goethe entworfenen und nach ihm benannten Theater im Vorort Bad Lauchstädt wird historisches italienisches Figurentheater gezeigt. Im Stadion spielt der Schweizer Massimo Furlan – alleine – das 1:0 der DDR-Mannschaft gegen die BRD vor 34 Jahren nach. Und parallel zur künstlerischen Inbesitznahme des öffentlichen Raums wird auf einem Symposium (am 27./28. Juni) darüber nachgedacht, wie offen dieser Raum in Zeiten von Kameraüberwachung und Privatisierung eigentlich noch ist.

Der New Yorker Performancekünstler Caden Manson setzt noch grundsätzlicher an. Er bespielt mit einer scharf ins Heute gesetzten Orestie-Version den Domplatz, ein Machtzentrum der mittelalterlichen Stadt. Nach Einbruch der Dunkelheit projiziert er Spielszenen aus dem Inneren der angrenzenden Häuser auf die Fassaden, zusammen mit Bildern von Wasser und Flammen, von Fäusten und Flugzeugen. Dazwischen geschnitten sind Interviews: Als „The People“ sprechen Hallenser Bürger über Demokratie, über Krieg, Gewalt und die Möglichkeit von Gerechtigkeit. Die Verschaltung von Mythos und Jetztzeit gelingt. Ab 27. Juni wird die Projektion auf dem Plattenbau des Finanzamts Halle-Neustadt zu sehen sein. Ein anderes Machtzentrum: Bis 1989 war hier die Stasi-Zentrale.

Am späten Eröffnungsabend erschallt Torjubel auf den Domplatz, das Elfmeterschießen zwischen der Türkei und Kroatien ist vorbei. Im efeuumrankten Innenhof der „Neuen Residenz“ hängt eine öffentliche Leinwand. Der Renaissance-Komplex ist die Partyzentrale des Festivals, mit Konzerten und DJs, mit Café und „Küche der Welt“, mit Liegestühlen unter Mammut- Kork- und Gingkobäumen, mit Räumlichkeiten für Pressegespräche oder einer Theatermacher-Kontaktbörse.

In der „Neuen Residenz“ starten auch die sieben von dem belgischen Regisseur Jos Houben betreuten „Stadt(ver)führungen“, die dem Besucher die Saalestadt auf jeweils sehr spezielle Weise nahe bringen. Die mit „Trabbis Welt“ überschriebene Tour etwa führt per Rennpappenkonvoi durchs kopfsteingepflasterte Industriegebiet („Hoffentlich hält die Achse!“) zum Genscher-Geburtshaus. Kaum mehr als eine Ruine, wird es gerade zur „Begegnungsstätte Deutsche Einheit“ ausgebaut. Im Garten steht eine leere Wiege, schließlich ist man der Zukunft zugewandt. Die Chauffeurstruppe schmettert ein altes FDJ-Lied, während die Gästeschar Apfelkuchen mampft. Zum Abschluss ein Zwischenhalt im Neubauviertel. „Der neue Osten“, meint der Fahrer, ein Schauspieler. Und singt schon wieder: „Fort mit den Trümmern und was Neues aufgebaut!“

Am zweiten Abend dann der Schnitt. „Camera Lucida“ des japanischen Regisseurs Shiro Takatani. Ein erster, stiller Höhepunkt des Festivals. Zwei Performerinnen, zart, streng, mit schwarzem Rock und dunkelblauer Bluse, auf zwei Sesseln, die zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Publikumstribünen über Bewegungen und Lichtsignale kommunizieren. Auf drei Screens an der Decke flirren Wolken- und Wasserbilder, Buchstaben und Linien.

Die Schlüsselszene ist eine Blütenlese: Ein Glastisch wird auf die Bühne geschoben, eine Spielerin streut gepresste Blumen darauf. Gänseblümchen, Stiefmütterchen, Veilchen, direkt abgefilmt, ziehen über den Videohimmel, langsam, wie farbige Wolken. Die Spielerin ordnet die Blüten mit einer Pinzette. Eine selten schöne Beschwörung der Geduld, der Dauer, des Innehaltens.

Schade nur, dass die sechs Damen um die sechzig, die zwischendurch ihren Auftritt haben und schnipselweise Informationen über ihre Träume und ihre Wohnzimmerdekoration preisgeben, den Fluss des Stücks eher stören. Sie wirken, bei allem Respekt, wie amateurhafte Fremdkörper in dem filigranen Bau des kurzen Abends. Und sonst? Noch bis zum 6. Juli wird in Halle Welttheater gezeigt. Da ist der litauische Starregisseur Eimuntas Nekrosius mit „Faustas“, von Goethe. Da ist ein work in progress von Yael Ronen über die „Dritte Generation“ junger, kriegsmüder, lebenshungriger Israelis. Da sind Sowjetgeschichten aus Kasachstan, Tanz aus Kenia, politisches Theater aus Argentinien. Der diesjährige Festivalslogan ist von Hölderlin geborgt: „Komm! Ins Offene“. Es lohnt sich, ihn zu beherzigen. Alle nach Halle. Mallorca kann warten.

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