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Theater: Die Nackten und die Goten

Wie der Krieg weiterging: Dimiter Gotscheff inszeniert Heiner Müllers "Anatomie Titus" am Deutschen Theater Berlin.

Alles kommt wieder. Achtzehn Jahre nach der Wende hat das Deutsche Theater Berlin gleichsam wieder DDR-Status erreicht. Es ist ziemlich unangefochten, erstes Haus am Platz, und es hat sich mit dem Intendanten Bernd Wilms am DT ein erkennbar erfolgreicher Stil herausgebildet. Man könnte es postmodernen Klassizismus nennen. Große, wenn nicht klassische Texte werden in bewegte Installationen hineingestellt. Halb mittelalterliches Triptychon, halb Francis Bacon auf viel leerer Fläche, so zeigt sich am Deutschen Theater eine noch analoge Bilderwelt, während auf anderen Bühnen bereits das Digitale dominiert. Vielleicht ist es ein Zug ins Konservative, aber es lässt sich nicht von der Hand weisen: Am modern-musealen DT überraschen, verblüffen, reüssieren die Schauspieler wie sonst nirgendwo in der Hauptstadt.

Das liegt, viel zu selten bemerkt, auch an den Bühnenbildnern und ihrer Bühnenbildwelt: Olaf Altmann baut für Michael Thalheimer, Johannes Schütz für Jürgen Gosch und Mark Lammert für Dimiter Gotscheff signifikante Räume. Sie geben den Akteuren spielerische Freiheit, fordern sie heraus.

Wunderbar ist dies zu beobachten bei Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome/Ein Shakespearekommentar“ in der Regie von Gotscheff: Ein riesiges golden-gelbes Tuch (oder Segel) flattert in der Leere, bedeckt nachher den Boden und lässt sich auch als Riesenrömertoga benutzen; das einzige Bühnenbildelement und Requisit des dreistündigen Abends. Ähnlich wie bei den grandiosen „Persern“ von Gotscheff und Lammert. Da ist es die inzwischen berühmte, den Raum teilende Wand, an der sich die Gotscheff-Helden die Köpfe heißreden.

„Anatomie Titus“, mit dem „Perser“- Quartett Margit Bendokat, Almut Zilcher, Samuel Finzi, Wolfram Koch, sieht man als Fortsetzung der antiken Kriegsspiele am DT. Nach den Griechen und den Persern bei Aischylos jetzt der zweite Welttheaterkrieg, Römer gegen Goten, römischer Bürgerkrieg. Und weil wirklich fast alles wiederkommt, auch Müllers schwarze Blutsuppenküchenstücke, darf an Karl Marx erinnert werden. Die Geschichte wiederholt sich als Farce.

„Die Perser“, die Inszenierung des Jahres 2006, schockierten durch die bloße Tatsache, dass Tragödie im Theater noch möglich ist. „Anatomie Titus“ dagegen ist mit den zwangsläufig dünneren Brettern, die gebohrt werden wollen, wieder Theateralltag, wenn auch auf sehr hohem Niveau. Finzi zaubert als Underdog Aaaron (und Hosenmatz) Komödie aus der hohlen Hand, Koch steigert sich nachgerade athletisch in einen zornigen Wahnsinn hinein, sein Feldherr Andronikus hat Macbeth-Qualitäten. Und Margit Bendokat, in der römischen Kaiserrolle, bringt mit ihrer plebejischen Stimmgewalt auch große Kinder um den Schlaf. Machtkämpfe als Kasperltheater. Spucke statt Blut. Mehr Hysterie als Historie. Viel zu verdauen und doch nicht sättigend. Wenn Finzi in seiner unnachahmlichen Art mit achselzuckendem Lächeln ins Parkett springt – fast zu sympathisch als Teufelsbraten –, scheint das meiste gesagt.

Denn so ist der Mensch, ein Untier. Ein Barbar, egal, wie viel Zivilisation er sich um seine Nacktheit wickelt. Ja und? Erstaunlich, wie kalt man dabei bleibt. Zählt man die abgeschlagenen Köpfe und Gliedmaßen, nimmt man die Vergewaltigung und Verstümmelung des Mädchens Lavinia dazu und die bei den Atriden abgeschaute Zubereitung der zwei bösen Buben der Gotenkönigin Tamora im Backofen, dann ist „Titus Andronicus“ mit Sicherheit Shakespeares blutigste Orgie. „Ein neuer Sieg verwüstet Rom, die Hauptstadt der Welt“: Müller schnitt Anfang der Achtziger ein Splatter-Theater daraus, das weniger in expliziten Actionszenen als im Kopf entsteht, als Angstfantasie. Es sah die Zukunft als globale Katastrophe. Eine unregierbare Welt, allgemeiner Bürgerkrieg um Ressourcen.

Aber merkwürdig. So wenig man heute sagen kann, dass Müller irrte – er starb 1995 –, so wenig dringt Gotscheff mit seinen Clowns und Kämpfern bis in die Gegenwart vor. „Anatomie Titus“ bleibt bei aller Virtuosität im einzelnen eine abstrakte Groteske. Gotscheff, seit Jahrzehnten einer der treuesten und vor allem erfolgreichsten Müller-Regisseure, mag es anders sehen. Doch dieser Text gibt seine Patina einfach nicht her. Je mehr daran gerieben und gescheuert wird, desto hartnäckiger scheint sie zu haften auf Schlüsselsätzen wie: „Der Menschheit/Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch/Im Blutstrom blättern.“

Müller träumte von Aufführungen, die seine Sprache nicht als „Mitteilung, als Information“ transportieren, sondern als „Melodie“, als Rhythmus, der „wie bei einem Popkonzert vom Körper aufgenommen wird“. Gotscheff hat ihn verstanden. Zu gut. Er bringt ihn zum Klingen. Und noch im schrillsten Schrei – es wird verdammt viel geschrien in diesem anatomischen Theater – verliert sich nicht der Text, hört man den Müller-Sound, der einmal eine Offenbarung war. Punk für die Bühne. Jetzt: ein Oldie.

Am Anfang unserer Theaterzeitrechnung war der Chor. Und so kommen sie aus einer winzigen Tür in der Rückwand, tasten sich durch die Dunkelheit, skandieren die martialischen Müller-Verse. Und schaffen eher Langeweile als Entsetzen. Verwirrend die Zuordnung der Rollen: Jule Böwe spricht den Lucius aus dem Andronikus-Clan, aber auch die Lavinia. Ihre unsagbaren Leiden wirken, wie so vieles hier, anekdotisch. Vor ein paar Jahren inszenierte Johan Simons dieses Stück für die Münchner Kammerspiele als lecture demonstration über das Ende des westlichen Wohlstands. Es war der Modellfall eines Theaters, das nicht nur brutal tut. Gotscheff aber verspielt den Schrecken.

Wieder am 6., 8., 12. und 19. 12.

Rüdiger Schaper

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