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Theater: Heimat frontal

Nach dem Irakkrieg: Andrea Breth inszeniert „Motortown“ am Wiener Akademietheater.

Im Akademietheater explodiert eine menschliche Bombe. Traumatisiert durch militärischen Drill und den Anblick sadistischer Folterungen bei seinem Einsatz im Irak, taumelt der junge Soldat Danny wie ein waidwundes Tier in eine Gesellschaft, die den Bezug zur Realität verloren hat. In dem heruntergekommenen Londoner Vorort Dagenham, jenem „Motortown“, in dem die Autofirma Ford einst eine prosperierende Fabrik unterhielt, erwarten den Heimkehrer Ignoranz und moralisches Chaos. Die sozialen Schlachten finden als innere Kriege statt, die sich in dem Ex-Soldaten mörderisch ihre Bahn brechen.

Wie grelle Schlaglichter beleuchten acht Szenen den „War on Terror“, die Nachwirkungen des 11. September und des Irakkriegs in England, und gleichzeitig dessen gesellschaftliche Voraussetzungen. Mit „Motortown“, in nur vier Tagen zur Zeit der Attentate in der Londoner U-Bahn im Juli 2005 geschrieben, schuf der 1971 geborene, britische Dramatiker Simon Stephens eines der überzeugendsten und derzeit meistgespielten Gegenwartsstücke. Dessen explosiver Realismus, inspiriert von Martin Scorseses „Taxi Driver“ und Georg Büchners „Woyzeck“, vermittelt eine Gesellschaft von lauter Tätern am Abgrund ihrer seelischen Deformiertheit, eingebettet in eine stringente Dramaturgie der offenen Brüchigkeit, bar moralischer Belehrung.

Exfreundin mit panischem Fluchtimpuls

Gefeiert für ihre textsensible Auslotung menschlicher Seelenlandschaften vor allem der klassischen Dramenliteratur, begegnete Regisseurin Andrea Breth nun der Gegenwart mit gepflegtem Naturalismus, der Stephens’ gequälte Lebendigkeit mit gestischen Effekten zähmt. Über zwei Jahre hat Breth am Burgtheater pausiert: Eine Erkrankung führte zur konfliktreichen Absage ihres „Wallenstein“-Projekts und zur frühzeitigen Auflösung ihres Vertrags als Hausregisseurin in Wien. „Motortown“ markiert ihr Comeback ebenso wie ihren Abschied vom Burgtheater unter der Intendanz Klaus Bachlers. Mit dem designierten, ab Herbst 2009 amtierenden Direktor Matthias Hartmann gibt es aber bereits Gespräche für Zukünftiges.

Ihr vertrautes Ensemble arrangierte Breth nun in schnappschussartigen Szenen, die durch plötzliche Blackouts und Bert Wredes beunruhigend dumpf flirrenden Sound scharf voneinander getrennt werden. Nur die Lichtstimmungen wechseln in Annette Murschetz’ Einheitsbühnenbild: ein verödeter Raum mit einer Tür und zwei seitlichen Öffnungen, die den Blick auf die Brandmauer der Hinterbühne freigeben. Papierfussel, alte Autorreifen und eine Bierkiste auf grauem Teppich bilden das trostlose Inventar einer fremd gewordenen Heimat im verslumten Londoner East End. Dannys Traum vom kleinbürgerlichen Familienglück zerbirst, als Marley nichts mehr von ihm wissen will: Nervös trippelnd, die Stimme durchlässig und schrill vor Angst, gibt Johanna Wokalek die Exfreundin als Mauerblümchen, reduziert auf den panischen Fluchtimpuls.

Eine nahezu autistische Gesellschaft

Zitternd, atemlos, weinerlich und im nächsten Moment aus einem Tänzchen in die Gebärde der Drohung verfallend, jongliert Nicholas Ofczareck mit den extremen Stimmungswechseln der gebrochenen Figur. Auf dem katastrophalen Höhepunkt des Dramas, dem Mord an der schwarzen Schülerin Jade (Astou Maraszto), verfehlt er die wesentlichen, emotionalen Handlungsimpulse der Tat.

Was bei Stephens als schleichende Katastrophe im Inneren seines Protagonisten dämmert und sich als Explosion in Form von vier Schüssen vollzieht – die Rache für soziale Ablehnung am schwächsten Glied einer nahezu autistischen Gesellschaft –, ereignet sich bei Breth als absehbares, effektvolles Blutbad ohne Spannungsbogen. Allein Andrea Clausen und Udo Samel als Swinger-Paar, das den angewiderten Danny für Sexspiele gewinnen will, durchbrechen das Typenschema und schaffen Witz und emotionale Kälte gleichermaßen. Ein Frösteln, das auch Wolfgang Michaels Paul verbreitet, wenn er – hellsichtig zwischen Droge und Wahrheit – über die Verrottung der Welt schwadroniert, während er Dannys Pistole scharf macht.

Durch poetische Künstlichkeit in der Sprachgebung, durch abrupte, genau dosierte Stimmungswechsel und eine subtile motivische Verkettung der Szenen macht Stephens brutale Realität erkennbar. Im kunstvoll-peniblen Abbild Andrea Breths wird die Wahrhaftigkeit der Figuren mit Glacéhandschuhen erstickt.

Christina Kaindl-Hönig

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