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Theater: In der Rollkofferhölle

„Wir lieben und wissen nichts“: Die Frankfurter Kammerspiele bringen die Uraufführung des neuen Stücks von Moritz Rinke

Stoisch hockt der Kulturhistoriker Sebastian auf seinem Lesestuhl, vertieft ins Studium spektakulärer Sexpartys im Vatikan. Seine Gliedmaßen umschlingen die einzige Sitzgelegenheit auf Anna Sörensens Bühne in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt derart innig, dass Mann (Marc Oliver Schulze) und Stuhl geradezu miteinander verwachsen scheinen. Freundin Hannah (Claude De Demo) umwuselt ihren in vielerlei Hinsicht prekären Lebenspartner unterdessen mit Rollkoffern und anderen Insignien des flexiblen Erwerbslebens: Willkommen in der Kampfzone Mobilität versus Verwurzelung, die Moritz Rinkes neues Stück „Wir lieben und wissen nichts“ nicht nur im territorialen, sondern vor allem im mentalen Sinn beackert.

Der vom Frankfurter Intendanten Oliver Reese urinszenierte Theatertext ist der erste des Schriftstellers und Tagesspiegel-Autors seit sieben Jahren; zwischendurch debütierte Rinke mit „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ erfolgreich als Romanautor. Wie in früheren Stücken à la „Republik Vineta“ oder „Café Umberto“ kreist auch „Wir lieben und wissen nichts“ um die Deformationen, die der (arbeits-)ökomische Zeitgeist am Homo sapiens zeitigt; diesmal in einer Konstellation, die zunächst Yasmina-Reza-Assoziationen weckt.

Hannah und Sebastian haben für zwei Monate einen Wohnungstauschvertrag mit dem Zürcher Ehepaar Hansen geschlossen, weil die Schweizer Banker- Elite bei Hannah einen Zen-Kurs zur Atmungsoptimierung gebucht hat. Und da es sich bei Roman Hansen (Oliver Kraushaar) um einen besonders beschleunigungsaffinen Zeitgenossen handelt, treffen er und seine Frau Magdalena früh genug in der Tauschwohnung ein, um die geplante Schlüsselübergabe in Richtung Ehehöllen-Offenbarung entgleisen zu lassen: Mit Edward Albee’scher Eskalationsdramaturgie werden statt der Wohnungen erst mal temporär und projektionsversessen die Partner getauscht, wobei die jeweils neue Konstellation gleichzeitig als Katalysator zur Bloßstellung des angestammten Partners fungiert.

Naturgemäß fliegen dabei alle Problemfelder und Sinnanker hin und her, mit denen sich der Zeitgenosse um die vierzig so herumschlägt: von ungewollter Kinderlosigkeit und „Fruchtbarkeitsapps“ über Fremdgänge beruflicher wie zwischenmenschlicher Natur oder virtuelle und analoge Impotenzen bis hin zu professionellen Wirklichkeitsverweigererungsformen, die Arthur Millers „Handlungsreisenden“ Willy Loman geradezu als Hyperrealisten erscheinen lassen.

Aus Berliner Sicht ist das Eintreffen der Hansens in Hannahs und Sebastians „luftiger“ Altbauwohnung übrigens besonders erfreulich, weil es ein Wiedersehen mit der früheren DT-Schauspielerin Constanze Becker bedeutet. Becker, die bei Ulrich Khuons Intendanzantritt mit Oliver Reese nach Frankfurt gewechselt war und für ihre dortige „Medea“-Darstellung gerade den Gertrud-Eysoldt-Ring zugesprochen bekam, stattet die zunächst verhuschte Frau Hansen nicht nur mit einer sympathischen texttreuen Spirituosenaffinität aus, sondern auch mit einer bis zur Versehentlichkeit beiläufigen Gnadenlosigkeit. Überhaupt haben die Frankfurter Ehepaardarsteller, die – wie vorab allenthalben zu lesen war – jeweils auch jenseits der Bühne Paare sind, sichtlichen Spaß daran, die in Rinkes Text angelegten Ambivalenzen nicht vorschnell preiszugeben, was umso bemerkenswerter ist, als Reese das Stück mit Tempo und Pointenbetonung konsequent in Richtung Boulevardkomödie inszeniert: eine Lesart, die „Wir lieben und wissen nichts“ durchaus (auch) zulässt und vom Frankfurter Premierenpublikum sichtlich goutiert wurde. Allerdings markiert Hessen erst den Anfang für diesen Kampfplatz der analogen und virtuellen Fallstricke: Sieben Theater stehen bereits in den Startlöchern, um Rinkes neues Stück nachzuspielen.

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