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Racheengeel. Die großartige Corinna Kirchhoff als Marwood. Foto: drama-berlin.de

© Bresadola/drama-berlin.de

Theater: Kein Vergeben, kein Vergessen

Lessings „Miss Sara Sampson“ am Berliner Ensemble.

Wieso eigentlich „Miss Sara Sampson“? Marwood, der Abend müsste Marwood heißen! Nach der ehemaligen Geliebten des Mellefont, die zur Rückeroberung des Verflossenen und dann aus Rache (Mellefont will leider nicht zu ihr zurück), zu allem bereit ist: Zum Mord durch Erstechen, zum Selbstmord durch Gift, ja, selbst vor der Tötung ihrer Tochter Arabella schreckt die verwundete Rasende erst im letzten Moment zurück. Corinna Kirchhof stellt sich mit vor Hass verengten Augen diese Medea-Tat vor – und man hört dabei förmlich die Zähne einer reißenden Bestie knirschen.

Das Stück von Lessing heißt „Miss Sara Sampson“. Darin spielt zwar die Rache eine große Rolle: Die verlassene Marwood vergiftet Mellefonts Neue, die „tugendhafte“, aber auch hochmütige Sara. Doch eine noch größere Rolle spielt darin die Vergebung, gewährt durch die selbstkritische Sara an ihrer Mörderin und personifiziert durch Saras Vater William Sampson, der sich, nachdem sich auch der flatterhafte Mellefont aus Gram tötet, des Kindes Arabella annimmt und damit den Kreislauf aus Schuld und Gewalt durchbricht. Alle sehen ihre Verfehlungen ein und haben reichlich Mitleid mit sich und den anderen, was dazu führte, dass die Zuschauer bei der Premiere „vier Stunden wie Statüen saßen und in Thränen zerflossen“, wie Lessing schrieb.

In der Inszenierung von Günter Krämer am Berliner Ensemble findet Vergebung nicht statt. Krämer hat die Rolle des Vaters gestrichen und damit die Gefahr der Rührseligkeit umschifft. Das Schwülstige wurde dafür ganz ins schaurig opernhafte Bühnenbild von Herbert Schäfer outgesourct – ein zwielichtig-barockes Hotelzimmer in nuttigem Lila. „Miss Sara Sampson“ ohne Vater (und Vergebung) ergibt also eine Dreifigurenkammer, ein zeitloses Frauenduell um den geliebten Mann? Doch auch das ist nicht zu sehen. Dafür bleibt Anna Graenzer als Sara, die am Anfang (den Kopf Marat-mäßig geneigt) nackt in der Badewanne liegt, zu sehr Stichwortgeberin; dafür bleibt auch Michael Abendroth, der das Hin-und-hergerissen-Sein Mellefonts in simple Fahrigkeit übersetzt, zu blass.

Der Abend gehört einzig und allein Marwood, also Corinna Kirchhoff. Und wie sehr die Kirchhoff gewillt ist, ihn auch an sich zu reißen, zeigt schon die erste Szene. Krämer hat zwei Fabeln über Wölfe und Schafe in den Text eingefügt. Die erste handelt von einem alt gewordenen Wolf, der bei diversen Schäfern drohend seine Wolfhaftigkeit ausspielt, um ein paar Schafe zu erpressen, aber die Schäfer lachen nur, und das stolze Tier wird zum winselnden Nichts. In schwarzem Mantel und hohen Stiefeln schief stehend, spricht Kirchhoff diesen Text wie in Zeitlupe und lässt dabei auf ihrem sich zauberisch wandelnden Gesicht die Züge aller möglichen Wesen erscheinen: vom traurigen Kind bis zur strengen Domina, von der bösen Hexe bis zum Kopf ruckenden Geier ist alles dabei.

Corinna Kirchhof spielt nicht eine rachsüchtige Frau, sie zelebriert die Verzweiflung einer alt werdenden Schönheit mit einem Furor, als zeige sie den Archetyp der verbitterten Frau. Dabei ist es völlig egal, wer ihre Gegnerin und wer der Auslöser ihrer Schmerzen ist. Die Kirchhoff-Marwood wütet eigentlich nur gegen sich, gegen das aufziehende Bewusstsein der eigenen Niedertracht und Verschlagenheit. Das ist – der überzeichneten Mimik zum Trotz – anrührend.

Der Drink mit dem Gift, er landet schließlich eher aus Versehen bei Sara. Gemixt hatte Marwood ihn wohl für sich selbst.

- Wieder am 30. Januar sowie am 4. und 15. Februar

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