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Haberlandt

© Bildbühne

Theater: Klein, aber brav

Hosentaschen-Tolstoi: "Anna Karenina" am Berliner Maxim-Gorki-Theater.

Die Welt schrumpft. Wir warten auf das Theater im iPod-Format. Theater im Fernsehformat, das gibt es schon lange. Aber das Fernsehen macht aus Tolstoi- Romanen wenigstens üppige Mehrteiler: Schrumpfungsprozesse gehen eben nicht immer so glatt, manchmal wehrt sich das Material.

Hier zum Beispiel hat Armin Petras, der Intendant des Maxim-Gorki-Theaters, „Anna Karenina“ zur Dreiecks-Boulevardkomödie zusammengestrichen. Sie fällt in der Inszenierung von Jan Bosse (einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen) mit drei Stunden allerdings auch wieder ziemlich lang und atmig aus. Eine Frau verlässt ihren grundsoliden Gatten wegen eines Offiziers und Künstlertyps. Braucht man Tolstoi, um diese Geschichte zu erzählen?

Immerhin, das Bosse-Petras-Theater ist transparent. Die kleine Bühne verkleinert sich im Bühnenbild von Stéphane Laimé noch einmal – zum Querschnitt durch ein Spielzeughaus. In flachen Zellen, kaum kann ein Mensch da aufrecht stehen, sind die sieben Akteure interniert. Winzigste Hotelzimmer, wie man sie aus Asien kennt. Und die Puppenstuben-Atmosphäre wird verstärkt durch einen altmodischen Märchentheaterton, den Fritzi Haberlandt vor allem kultiviert. Man denkt bei ihrer Anna an das Mädchen mit den Schwefelhölzern, aber im Grunde erwecken auch die Männer nur Mitleidsgefühle. Ronald Kukulies, der Herr Karenin, überspielt das Schicksal des betrogenen und zerstören Mannes mit verzweifelt komischen Einlagen. Und Wronski, der sagenhafte Verführer Graf Wronski? Ist bei Milan Peschel ein mürrischer Chaot und Poltergeist, er kriegt die Frau, und fertig.

Es tut weh, diesem lustigen Gequäle zuzuschauen, weil es nicht wehtut. Betrug, Einsamkeit, Zerrissenheit, Selbstmord schrumpfen zu Chiffren eines allgemeinen, leicht autistischen Unbehagens an sich selbst und dem anderen, dem Liebes- oder Lebenspartner.

Es braucht schon eine handfeste Prügelei zwischen Peschel und Kukulies, dass die ewige Starre mal für Momente aufbricht. Rigips-Wände splittern, Fäuste fliegen, schon wieder fertig. Ein unzerstörbares Gefängnis. Personen stecken in Figuren fest, ohne Charakter. Sie sagen „Ich“, aber das „Ich“ bleibt der dritten Person verhaftet („Sagt Wronski ...“). Mit diesen erzählerischen Zwischenspurts wird, aber auch nur virtuell, so etwas wie Handlung vorangetrieben. Wie willkürlich-undramatisch das abläuft, merkt man zur Pause, wenn so mancher Zuschauer der Meinung ist, das sei es jetzt ja wohl gewesen.

Vielleicht ist es auch nicht die Welt, die schrumpft, sondern vielmehr die Fantasie und die Wahrnehmung. Tolstois mächtiges Erzählwerk, 1875- 77 in einer Zeitschrift in Fortsetzungen erschienen, ist große, weil großformatige Literatur und leitete die Geburt des Kinos ein. Aber auch der Film ist auf breiter Front geschrumpft, nicht nur das Theater. Wenn man Milan Peschel hier sieht, wie er gelegentlich zum Befreiungsschlag ausholt, um sich sogleich wieder in sein melancholisches Schneckenhaus zurückzuziehen, dann drängen sich Erinnerungen an die Volksbühne auf, wo Peschel früher engagiert war. Erinnerungen an ausufernde, endlose, virtuose, belastende, beglückende Castorf-Dostojewski-Expeditionen auf der Suche nach Gott und dem neuen Kapitalismus.

Als hätte im Theater eine Währungsreform stattgefunden, und keiner hat es gemerkt. Castorf war galoppierende Inflation. Jetzt regiert die kleine, brave Münze.

Wieder am 11. Juni und 1. Juli

Rüdiger Schaper

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