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Theater: Neukölln zum Mitnehmen

Wir da oben: Mit dem Theaterlabor der "X Wohnungen“ auf Recherche im Problemkiez. Die Neukölln-Routen sind geeignet, Rütlischulen-, No-go-Area- und andere Endstationsassoziationen ordentlich aufzuweichen.

Berlin-Gropiusstadt, Löwensteinring 44, 1. Stock. In der Wohnung von Frau X erwartet uns ein stadtgeschichtlicher Zehn-Minuten-Crashkurs. Frau X selbst ist zwar ausgeflogen und lässt sich von der jungen Schauspielerin Janna Horstmann vertreten. Aber während diese anhand eines Miniaturmodells die Entwicklung der von Walter Gropius geplanten Trabantenstadt demonstriert (die bekanntlich nicht immer eine zum Guten war), wandert der Blick zum Wohnzimmerregal. Dort ist die Bewohnerin doch unübersehbar präsent – auf Fotos und CD-Covern mit lila Federboa über dem kleinen Schwarzen. Die Rentnerin sieht aus, als wüsste sie wirklich genau, wovon sie singt, wenn sie mit ihren Kolleginnen von der Damenschlager-Combo „Die Gropiuszicken“ kiezeigene Feierlichkeiten veredelt.

„X Wohnungen“, das vor einigen Jahren von HAU-Chef Matthias Lilienthal erfundene und seither mit Riesenerfolg in wechselnden Kiezen weltweit praktizierte Theater in Privatwohnungen, führt diesmal auf drei Routen durch den wahrscheinlich schlagwortreichsten Hauptstadtbezirk überhaupt: Neukölln. Außer dem Gropius-Parcours inszeniert Regieprominenz auch ausgewählte Domizile im nördlichen Reuterkiez sowie rund um den Körnerpark im Süden. Der Clou besteht darin, dass nicht nur die Wohnungen, sondern mehr noch die alltäglichen Abläufe ungeahnte dramatische Qualitäten entfalten. Während man, jeweils zu zweit und mit einer Wegbeschreibung ausgestattet, von Station zu Station läuft, entwickelt man zwangsläufig diesen Theaterblick, in dem soziale Wirklichkeit und Inszenierung, Klischee und Tatsache einander schon längst heillos infiziert haben, bevor man die Sozialvoyeurismus-Brille auspacken kann.

Am besten hat der allerjüngste Kieznachwuchs dieses Synergie-Potenzial begriffen. An der vierten Station auf der Körnerpark-Route, vor der Haustür in der Nogatstraße 53, muss man immer ein Weilchen warten, weil oben die Sängerin Peaches ihren Gästen eine derart schräge Liebeserklärung macht, dass es offenbar keinem leichtfällt, sich wieder loszureißen. Also hat sich unten eine Grundschuljungsgruppe formiert, die den Leerlauf mit Breakdance-Einlagen aufmischt. Natürlich keine Sekunde zu viel und gegen vorher minuziös ausgehandeltes Salär!

Diese Neukölln-Routen sind geeignet, Rütlischulen-, No-go-Area- und andere Endstationsassoziationen ordentlich aufzuweichen. Drogendealer wie die von Christian von Borries im Gropiusstadt-Ambiente inszenierten Schauspieler-Russen, die einen umgehend wieder rausschmeißen und lauthals „nach Mitte“ zurückschimpfen, bleiben genauso im Rahmen wie die üblichen Freaks. Das Image der Gropiusstadt wird vor allem durch gehaltvolle Trips in die Höhe und die Tiefe aufpoliert. Während Simone Aughterlony durch den vollgerümpelten Keller eines hübschen Gartenhäuschens führt, in dem der englisch sprechende Bewohner per Tonband jeden Plunder einzeln kommentiert, laden Angela Bulloch und Michael Iber ins Dachgeschoss eines Hochhauses, von dem aus sie mit einer raffinierten künstlerischen Öffnungs- und Verkleisterungsstrategie immer neue Sichten auf den Stadtteil ermöglichen.

Wenn man dort oben steht, fallen einem sofort die Trendforscher ein, die Neukölln inzwischen zum ultimativen Szenebezirk hochjazzen. Und das Ensemble Zeitkratzer zeigt denn auch auf der Körnerkiez-Tour, wie genau der in zehn Jahren aussehen könnte: Mit bestürzend wenigen Handgriffen haben die Musiker aus einer Gästewohnung auf der Thomasstraße eine Mischung aus Therapie- und mentalem Wellnesszentrum gemacht.

Hier wird man zur Edelpatientin und mit der jeweils zur Stimmungslage passenden Streicher- oder Bläsermassage wieder alltagsfit gemacht – nur wenige Ecken von der Wohnung jener achtköpfigen Familie aus dem Libanon entfernt, die seit Jahren mit mal halb-, mal anderthalbjährig verlängerter Duldung in Deutschland lebt und auf Einbürgerung hofft. Der Blick in die Behörden-Unterlagen der Familie, den Hans-Werner Kroesingers Inszenierung ermöglicht, ist denkbar kurz – und erhellender, als einem lieb sein kann.

All diese Neukölln-Fragmente philosophisch auf den Punkt bringt Heiner Goebbels’ wunderbare Installation auf der Gropius-Tour. Der Regisseur spielt auf einen Raum des buddhistischen Tempels Genko-An im japanischen Kyoto an, wo zwei unterschiedliche Fenster – ein quadratisches „window of confusion“ und ein rundes „window of enlightenment“ – den Blick auf ein- und denselben Garten freigeben. In Goebbels’ Installation steht man nacheinander an zwei Balkonfenstern in der obersten Etage eines Hochhauses, um das Geschehen aus zwei komplett unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Hier mehr zu verraten, würde das Konfusions- und Erleuchtungserlebnis allerdings beträchtlich schmälern.

Noch heute und morgen, ab 16 Uhr, Karten nur im Vorverkauf über das HAU: Tel. 030 - 259 004 27.

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