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Anstbilder. Die Performance „Sculpting Fear“ von Julian Hetzel im ehemaligen Residenzschloss von Wilhelm II.

© Martin Wickenhäuser

Theaterfestival in Posen: Wenn plötzlich der Boden schwankt

Lasst uns reden: Das Malta-Theaterfestival in Posen spiegelt ein Land wider, das sich immer mehr aufspaltet. Ein Besuch in Polen.

Wenn Michał Merczyński die polnische Gesellschaft beschreiben will, spricht er vom Grand Canyon. „Die einen stehen diesseits der Schlucht, die anderen jenseits.“ Hier die Anhänger der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ mit ihrem Erbauungsprogramm aus Nationalismus, Katholizismus und Fremdenfurcht, dort die verbliebenen liberalen Kräfte mit ihren Öffnungsbestrebungen. „Einen Dialog zwischen den Gruppen gibt es nicht, stattdessen wächst die Kluft.“ Das sei, findet Merczyński, der Direktor des Malta-Festivals in Posen, erstens ein gesamteuropäisches Problem-Phänomen. Und zweitens eine ziemlich ernste Angelegenheit: „Wenn wir nicht miteinander reden, kann das sehr gefährlich werden.“

In Posen, polnisch Poznań, der Stadt an der Warthe, ist der Grand Canyon auf 500 Metern Luftlinie zu besichtigen. Zwischen der Fußgängerzone, Ulica Połwiejska, wo schwarz gekleidete junge Polen Unterschriften gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sammeln, und Plac Wolności, dem Platz der Freiheit, wo das Malta-Festival sein Zentrum aufgeschlagen hat und das urbane Kulturvolk in Liegestühlen bei Loungemusik und Biolimonade chillt. Nicht weit entfernt, auf dem Marktplatz, Stary Rynek, hat vor einigen Jahren noch eine Uhr den Countdown bis zur Euro-Einführung gezählt. Die ist inzwischen abmontiert, man darf jetzt wieder stolz auf den Złoty sein. Damit ist Polen auf triste Weise doch angekommen in Europa, im Europa der Spalter.

„Mit dem diesjährigen Festival-Programm wollten wir ein Statement setzen“, sagt Merczyński, ein weit vernetzter Kulturmanager Mitte 50: „Lasst uns miteinander reden.“ Das Festival, das seinen Namen einem See in Posen verdankt und im nunmehr 26. Jahr existiert, hat 2010 die Reihe „Idiom“ ins Leben gerufen, die von wechselnden Künstlern kuratiert wird, in diesem Jahr von der Niederländerin Lotte Van den Berg, die ihre Reihe „Building Conversation“ mitgebracht hat. Die führt die Zuschauer zum Austausch zusammen, wobei es vor allem darum geht, widerstreitende Meinungen und Konflikte als demokratische Bereicherung zu begreifen. Schöne Idee. Nur ist natürlich auch klar, dass sich dabei nicht die Hörer des fundamental-katholischen Radiosenders Maryja („Maria“) und die queere Community Posens zum Rendezvous treffen.

"Wasteland" führt an den Rand der Gesellschaft

Für das Malta-Festival hat Van den Berg aber auch eine zehn Jahre alte Arbeit wiederbelebt, die aktueller denn je wirkt: „Wasteland“. Von der Jordana-Brücke nahe der Posener Kathedrale werden die Zuschauer an einem Nebenarm der Warthe entlang zu einer Freifläche geführt, wo ein wortloses Schauspiel beginnt. Am Ende sind (fast) alle tot, aber nach Shakespeare im Park fühlt sich das Ganze nicht gerade an. Die Performer, ziemlich abgerissen gekleidet, reihen Szenen der totalen Entmenschlichung aneinander. Das soziale Miteinander besteht aus Raub, Vergewaltigung und Mord, ohne dass es jemanden scheren würde. Rechtsfreier Raum eben. Eigentlich beschreibt Van den Berg mit „Wasteland“ ein postapokalyptisches Szenario. Ihre Dystopie unter sengender Abendsonne lässt sich aber auch als Blick auf jenen Rand der Gesellschaft lesen, vor dem man lieber die Augen verschließt.

„The Paradox of the Spectator“ ist diese Malta-Ausgabe betitelt, das Paradox des Betrachters. Das bestehe, so Merczyński, in dessen Doppelrolle als passiver Zeuge und verantwortlicher Akteur. Das Festival setzt vor diesem Hintergrund, durchaus zeitgemäß, auf eine Kunst der Verstörung. Raus aus der Komfortzone. Noch geht das. Zwar genießt der polnische Kulturminister Piotr Gliński einen Ruf wie Donnerhall. Vor einem halben Jahr war ja auch hierzulande viel zu lesen über die versuchte Zensur einer Jelinek-Inszenierung in Breslau. Aber das Malta-Festival, das von der Stadt, der Region und dem Staat getragen wird, hat zumindest für die kommenden drei Jahre seine Existenz gesichert, ohne dass ihm ins Programm geredet würde.

Im Kulturzentrum Zamek, dem ehemaligen Schloss Kaiser Wilhelms II., wo während des Zweiten Weltkriegs Hitler ein Arbeitszimmer hatte, zeigt der deutsch-niederländische Künstler Julian Hetzel seine Performance „Sculpting Fear“. Eine Choreografie, die mit drei Performern auf rollenden Bürostühlen sehr wirkmächtig Angstbilder beschwört: vom plötzlichen Einbruch des Terrors, vom Boden (aus Styropor), der buchstäblich unter den Füßen weggerissen wird. Und ja, vom Sterben in Schönheit.

Dries Verhoeven irritiert erneut mit einer plakativen Aktion - wie in Berlin

In der Fußgängerzone, unweit der Stände, an denen die nachgemachten Trikots des Volkshelden Robert Lewandowski verkauft werden, irritiert wiederum der Niederländer Dries Verhoeven mit einer Installation die Shopping- Ruhe. „Ceci n’est pas notre desir“, das ist nicht unser Begehren, ist seine Aktion betitelt. Verhoeven hat eine verglaste Box aufgestellt, in der täglich wechselnde Performer die Rolle des Beargwöhnten übernehmen. Eine kleinwüchsige Frau, die Cocktails trinkend auf die Passanten schaut. Oder ein Muslim mit Gebetsteppich und schusssicherer Weste. Was er damit auslösen würde, hätte Dries Verhoeven, ein Künstler mit Faible für plakative Provokationen, wohl nicht erwartet. Aber man kann sich ungefähr ausmalen, welche Szenen sich abspielen, wenn betrunkene Fußballfans nach dem Sieg der Polen gegen die Schweiz an diesem Mann vorbeiziehen. Und das wäre in Deutschland garantiert nicht anders.

Während die EM-Übertragung die „Polska! Polska!“-Chöre auf dem Marktplatz anschwellen lässt, während die mehrheitlich klar friedlichen Fans dem Viertelfinale ihres Teams entgegenfiebern, sitzt der junge polnische Künstler Jan Komosa auf dem Platz der Freiheit vor einer Handvoll Interessierter, die tatsächlich seinetwegen auf Fußball verzichtet haben. Komosa wird zusammen mit dem Choreografen Mikołaj Mikołajczyk zum krönenden Abschluss des Malta-Festivals die Inszenierung „Ksenofonia“ zeigen, im Untertitel: „Symphony for the Other“. Angekündigt als Multimedia-Spektakel, wird „Ksenofonia“ ein Beitrag zum 60. Jahrestag der polnischen Aufstände gegen die Kommunisten 1956. Ein Datum, das in der Stadt um einiges präsenter ist als das 25. Jubiläum der deutsch-polnischen Nachbarschaftsverträge, das ja 2016 auch gefeiert wird.

Regisseur Komosa, 1981 in Posen geboren und eigentlich Filmemacher, zielt mit der Show nicht auf patriotische Heldensagen, im Gegenteil. Auch er beklagt im Interview den anschwellenden Bocksgesang der Nationalisten, das „Klima geduldeter Aggression“. Er kommt auf den Warschauer Regenbogen zu sprechen, dieses von homophoben Irren schon mehrfach angezündete Kunstwerk, das aber jedes Mal von Freiwilligen wieder aufgebaut wurde. Solche Zivilcourage brauche es, demokratisches Empowerment sowieso, auch die Bereitschaft, Geschichte persönlich zu nehmen. Dafür soll in Komosas Augen 1956 stehen.

Derweil liegt auch über dem Platz der Freiheit, wo sich Jugendliche Kopfhörer für die „Silent Disco“ leihen, der Schatten Englands. Eine junge Festival-Mitarbeiterin mit Rastas erzählt aufgebracht von einem Facebook-Video, das englische Fans beim Zertrampeln der polnischen Flagge zeige. „Wieso unsere Flagge?“, empört sie sich. Und dass es den Brexiteers ja vor allem darum gegangen sei, die Polen aus dem Land werfen zu können.

Fragt man Festival-Direktor Michał Merczyński, was er für die nähere Zukunft seines Landes erwarte, zitiert er das Motto der „Idiom“-Reihe vom vergangenen Jahr, kuratiert vom Briten Tim Etchells: „The Future Will Be Confusing“. Merczyński würde das gern erweitern: „Auch die Gegenwart ist verwirrend.“

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