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Tarlabasi

© Koall / VISUM

Theaterfestival: Planet X

Theater auf der anderen Seite: Das Istanbul Festival ist eine politische Bühne. Es geht dahin, wo es wehtut. Zum Beispiel in den bitterarmen Stadtteil Tarlabasi, wo das Projekt "X Wohnungen" spielt: In privaten Wohnungen spielen Schauspieler zehnminütige Stücke - für zwei Zuschauer.

Wie viele brutale, tragische, unerträgliche Bilder speichert das Gehirn, wie funktioniert Vergessen? Ein brennendes Hotel, umstellt von einer tobenden Menge, hochgereckte Fäuste, Steine und Brandsätze fliegen, auf der Feuerwehrleiter ein alter Mann, der in letzter Sekunde dem Inferno entrinnt. Der Schriftsteller Aziz Nesin überlebte das Massaker von Sivas. 37 Menschen erstickten und verbrannten.

Sivas, eine alte Kulturstadt in Zentralanatolien. Am 2. Juli 1993 trafen sich dort Künstler, Intellektuelle, Folkloregruppen zu einem alevitischen Kulturfestival. Schon Tage zuvor hatten sunnitische Islamisten gegen Aziz Nesin, den Übersetzer von Salman Rushdies „Satanischen Versen“, gehetzt und ihm den Tod gewünscht. Schnell gerieten die Proteste außer Kontrolle. Die Sicherheitskräfte griffen erst – und auch nur zögernd – ein, als der berauschte Männer-Mob die Stadt beherrschte und das Madimak-Hotel schon in Flammen stand. Die Staatsmacht kapitulierte vor den Radikalen. Warum sollte Ankara den regimekritischen Geistern um Aziz Nesin zu Hilfe kommen?

Fünfzehn Jahre später – die Morde von Sivas wurden nie ernsthaft untersucht – bringt der Regisseur Genco Erkal das türkische Trauma zum ersten Mal auf die Bühne. Das Stück „Sivas ’93“ konfrontiert das Publikum beim Theaterfestival Istanbul mit Filmmaterial, das so noch nie zu sehen war. Das Zusammenrotten der hasserfüllten Menge, das Anschwellen der Mordlust, die Passivität von Polizisten und Soldaten – das Theater wird zum Medium der Erinnerung. Man muss an Hoyerswerda 1991 denken, an Rostock 1992; da beriefen sich die Barbaren nicht auf Gott.

Vor der Leinwand, auf der die Bürgerkriegsbilder in grauenerregender Ausführlichkeit ablaufen, steht Genco Erkal mit seinen Schauspielern, schwarz gekleidet. Sie nehmen den Platz der Opfer ein, sprechen aus dem Innern des belagerten Hotels, in dem die Luft knapp wird. Lebende Tote, sie legen für sich selbst Blumen nieder. Vergeblich wehrt man sich gegen das Pathos dieses dokumentarischen Theaters, wie man es bei uns aus den sechziger Jahren kennt, als Peter Weiss und Rolf Hochhuth die Bühne in ein Tribunal verwandelten. Theater als moralische Tat – wer das für nicht mehr zeitgemäß hält, lebt sicher oder verkennt die Lage in der Türkei und anderswo. Genco Erkal sagt: „Kriminelle und ihre Motive, die im Dunkeln bleiben, das kennen wir. Dasselbe Spiel, immer und immer wieder. Sivas muss vollständig aufgeklärt werden, wenn es sich nicht wiederholen soll.“ Erkals Drama (Musik: Fazil Say) wird mit stehenden Ovationen gefeiert.

Das Istanbuler Festival – es findet alle zwei Jahre statt, finanziert von einer privaten Stiftung – bietet eine politische Plattform. Es fungiert inzwischen auch als Motor und Mittler für neue Formen. Direktorin Dikmen Gürün forciert das Experiment, sie spielt mit hohem Risiko. Türkische Theater zeigen hier grundsätzlich neue Produktionen. Die Spielstätten liegen rund um die Istiklal, die Geschäfts- und Partystraße in Beyoglu.

Hier mag man sich wie auf den Ramblas in einem orientalischen Barcelona fühlen, der Tourismus boomt. Damit einher geht die Entwicklung einer international kompatiblen Kulturszene. Ein paar Meter weiter, nahe beim Hotel Londra, wo Fatih Akins Filme spielen, steht man „auf der anderen Seite“, in Tarlabasi. In dem heruntergekommenen, bitterarmen Viertel, wo bis zur ihrer Vertreibung in den fünfziger Jahren viele Griechen lebten, hausen heute Kurden, Roma, Illegale, Prostituierte. Tarlabasi gilt als no go area. Mit massiven Umbaumaßnahmen plant die Stadtverwaltung einen Frontalangriff gegen Armut, Kriminalität und billigen Wohnraum im Zentrum Istanbuls.

Doch vorher kommen die Künstler. In Tarlabasi haben sie für ein paar Tage Privaträume besetzt und für Besucher geöffnet, die sich sonst nie hier hineinwagen würden. „X Wohnungen“ heißt das global-lokale Projekt , ursprünglich erdacht von Matthias Lilienthal, dem Leiter des Berliner HAU, und mittlerweile erprobt im Ruhrgebiet und in Berlin, in Venezuela und der Schweiz. Theater auf engstem Raum, im Zehn-Minuten-Takt, jeweils für zwei Personen, die sich fremden Menschen und schwer einzuschätzenden Situationen gegenübersehen. Das Istanbul Festival hat sich damit auf sein größtes Abenteuer eingelassen.

Man geht am Tag, aus Sicherheitsgründen. Bekommt ein Bändchen ums Handgelenk und einen Plan, eine Art soziotheatraler Schnitzeljagd. Erste Station: eine winzige Schreinerwerkstatt im Keller. Ein Mann wirft die Kreissäge an, schneidet dünne Bretter zurecht, nagelt eine Kiste zusammen. Eine Frau lässt ihre Säge singen. Fertig. Sie verbeugen sich. Kurzer Abschiedsgruß. Nächste Station: eine Wohnung im dritten Stock. Muffig, bedrückend, das Schlafzimmer ein Lagerraum, Kleider, Kisten, ein alter Computer. In der Küche backt eine Frau Teigtaschen. Eine Tänzerin vermisst den Raum mit ihrem Körper. Kunst! Wie viel Realität erträgt Theater? Die Frage stellt sich hier umgekehrt: Wie viel Theater braucht Realität, um wahrgenommen zu werden.

In einer leeren, verfallenen Wohnung, die man über halsbrecherische Stiegen erreicht, schreit sich ein bärtiger Mann die Seele aus dem Leib. Er rüttelt an verschlossenen Türen, wiegt sich in einem tödlich traurigen Tanz. Er trägt ein Brautkleid mit Schleier und dem roten Band der Jungfräulichkeit. Ein Schwuler, der zum Militär muss? Ein Mädchen, das aus Angst vor der Hochzeit verrückt wird?

Sven Heier, Patrick Wymann und Dilek Altuntas – das „X Wohnungen“-Team von Istanbul – haben die Orte über Monate hin ausgesucht, vorbereitet und im Grunde so belassen, wie sie sind. Das Projekt funktioniert, wie überall in der Welt, über die Nachbarschaft und Mundpropaganda. Neugier auf Exotik, Sozialtourismus, Voyeurismus, all das spielt da hinein. Aber es ist nicht ausgemacht, wer wen genauer betrachtet. In einer Wohnung sitzen zwei Frauen mit Kopftuch und drei Kinder, der Fernseher ist eingeschaltet: Bilder vom Familienvater bei der Arbeit. Er verkauft Muscheln auf einer Shopping-Meile, eine Tochter verdient in einer Näherei, die andere in einer Bäckerei. Die Bilder laufen ohne Kommentar. Und kaum, dass die Frauen die merkwürdigen Gäste wahrnehmen. Du gehörst nicht hierher, auch dies Gefühl können die „X Wohnungen“ vermitteln. Zweieinhalb Stunden wie ein ganzer Tag – jede der sieben Stationen auf der Tour durch die dörflichen Gassen von Tarlabasi ein geschlossener Kosmos, eine lange Geschichte, ein Lebensroman, in den man kurz eintaucht und für den sich außerhalb dieser vier abblätternden Wände niemand interessiert. Auf seltsamen Wegen führt „X Wohnungen“ zu einem immer kostbarer werdenden Gut: Empathie.

In einer gepflegteren Mansarde wartet ein schläfriger Mann in Unterhosen. Er wird vorgestellt als „Präsident“ und einziger Bewohner von „X Land“. Auf montierten Fotos sieht man ihn mit Merkel, Bush, dem Dalai Lama. Am Ende der Audienz liegt er blutüberströmt in der Toilette. Alles Theater, na gut, aber es wirkt. Wie jenes verschwörerische Gespräch mit einem gut aussehenden jungen Typen im Anzug, er agiert äußerst nervös. Holt plötzlich eine Pistole heraus, fuchtelt mit Magazin und Patrone herum. Redet von ständiger Bedrohung in diesem Viertel, Schießereien, Mafia, Morde, da brauchst du eine Waffe ... . Ein Schauspieler, das wird langsam klar, da er plötzlich deutsch spricht und die Eindringlinge aus der Wohnung schiebt, kalt lächelnd. Die Nummer hat gesessen.

So ist es hier in Tarlabasi, nichts erfunden. Allmählich wird die „X Wohnungssuche“ ungemütlich. Am Ende des langen Marsches durch die Irritationen eine Schauspielerin, schwanger, nun ja, sie hat wohl ein Kissen unterm T-Shirt, aber die Angst um ihren Freund, einen kurdischen Journalisten, der am helllichten Tag verschwand: So etwas denkt man sich nicht aus. Es passiert.

Theater in Istanbul, das ist kein Turkish Delight. Auf einer kaum beleuchteten Kellerbühne proben drei Schauspielerinnen ein neues Stück. Eine Kurdin, eine Religiöse, eine Lesbe, so verteilen sich die Rollen.Wieder eine politische Demonstration. Sie wollen Freundinnen sein, einfach junge türkische Frauen in einem Land, das um seine Gegenwart kämpft.

„X Wohnungen“ gibt es vom 5. bis 8. Juni wieder in Berlin, diesmal in Neukölln, u. a. mit Rabih Mroué, Peaches, Heiner Goebbels (www.hebbel-am-ufer.de).

Rüdiger Schaper

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