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Theaterfestival: Stürzende Sterne

Alles, was im Theater möglich ist: das 62. Festival von Avignon.

Touristen mit Rucksäcken, Kameras und Audioguide laufen über die Bühne, betrachten die hoch aufragenden Fassaden des Papstpalastes. Ein Kommentar erinnert an die politischen Verwicklungen im Europa des beginnenden 14. Jahrhunderts, die zur Ansiedlung der Päpste in Avignon und an den Bau ihrer gotischen Trutzburg geführt haben. Das Festivalpublikum staunt. Kurz darauf sprayt ein Junge auf die Unesco-Welterbefassade den Namen "Jean“, Romeo Castellucci lässt sich von drei Hunden anfallen, und ein Fassadenkletterer kraxelt die 30 Meter hohe Wand hoch. Es ist atemberaubend – aber ist es Theater? Kaum fünf Minuten hat diese Performance gedauert, Romeo Castellucci hat sich den weltberühmten Bau zu "Material“ gemacht. Er ist eben kein Theatermann, sondern bildender Künstler.

Seine "Göttliche Komödie“ ist ein unmögliches Projekt, weil Dantes Werk eigentlich nicht aufführbar ist. "Aber in letzter Konsequenz ist das einzig interessante, was das Theater zeigen sollte, ja das Unaufführbare,“ findet Castellucci und inszeniert konsequenterweise nicht die 33 Gesänge des Inferno, nicht Dantes Höllenreise unter der Anleitung des Vorbilds Vergil, sondern Träume, Allegorien, Metaphern eines von der Geschichte der bildenden Kunst geprägten zeitgenössischen Künstlers. 100 stumme Akteure gruppiert er in starken, fast erbarmungslosen Bildern, projiziert plötzlich die Titel von Kunstwerken der amerikanischen Pop-Art auf die Fassade des Ehrenhofes und lässt schließlich Andy Warhol selbst auftreten, der aus einem verkohlten Autowrack aussteigt.

Am Ende erscheint auf einer Serie von Fernsehern in den Fenstern des letzten Stockwerks der Schriftzug étoiles, Sterne, das Wort also, mit dem Dante sowohl die "Hölle“, als auch den "Läuterungsberg“ und das „Paradies“ in seiner Dichtung enden lässt. Mehrere Fernseher erlöschen, stürzen dann mit lautem Krach auf die Bühne, drei bleiben übrig und bilden das Wort toi – Du. Castellucci hat zu Beginn seiner Dante-Trilogie in Avignon eine äußerst starke, zeitgenössische und doch auch zutiefst katholische Bilderwelt entfaltet. Aber eine alte große Frage bleibt ungeklärt: Können Bilder andere Bilder läutern, ist die durch Massenkultur besudelte und korrumpierte An-schauung noch einmal für die Metaphysik zu retten? Castelluccis Reise wird in den nächsten Tagen weitergehen, durchs Purgatorio ins Licht des Paradiso, jeweils an anderen Orten der Stadt.

Die andere Eröffnungspremiere des 62. Theaterfestivals von Avignon, die der Schauspielerin Valérie Dréville, führt geradezu in die entgegengesetzte Richtung. Direkt ins Herz der Sprache. Paul Claudes "Partage de Midi“ (Sonnenwende) hat sie in der Rolle der lebenshungrigen Ysé an der Seite von ihren drei Mitakteuren ohne die Leitung eines Regisseurs erschlossen. Eine Schauspielerarbeit also, die der in Frankreich einigermaßen modischen Idee folgt, dass sich des Dichters Wort so ganz ohne Regie und unverfälscht im Mund des Akteurs entfalten soll.

Tatsächlich gelingt es der Ausnahmeschauspielerin, dieser vom russischen Guru Anatoli Wassiljew infizierten Theaterschmamanin, und ihren Mitstreitern in dem imposanten Boulbon-Steinbruch auf einem simplen Bretterpodest, die poetische Sprache des Claudelschen Quartetts zum Klingen zu bringen. Aber ein dramaturgische Leitgedanke fehlt und das Spiel ermattet immer wieder in etwas willkürlichen kunstvollen und demonstrativen Posen. Da ist dann zu viel Inkarnation im Spiel, zuviel die Metaphysik maskierendes Fleisch, im Gegensatz zu Castelluccis Auflösung der Leiber im Dienste der Bilder.

Am Beginn des diesjährigen Festivals stehen zwei Extrempositionen dessen, was Theater heute sein kann. In ihrer Mitte agiert der Antwerpener Toneelhuisdirektor Guy Cassiers, der seinerseits mit Videobildprojektionen und ausgezeichneten Akteuren, mit einem intelligenten Text und den klassischen Mitteln der Regie einer dreifachen Agonie der Macht nachgespürt hat: Lenin, Adolf Hitler und der japanische Kaiser Hirohito auf einer Bühne, in miteinander verwobenen Szenen am Ende ihrer Macht, konfrontiert mit den bösen Nachrichten vom Verfall ihrer Reiche.

Bis 26. Juli. Infos im Internet unter www.festival-avignon.com

Eberhard Spreng

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