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Ella Rentheim (Julia Stemberger) und Borkman (Martin Schwab) in der Inszenierung "Bankier Borkman".

© Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

Theaterfestspiele Reichenau: Oh, wie schön ist Kakanien!

Österreich, richtig retro: Ein Spaziergang über die Theaterfestspiele in Reichenau, wo jeden Sommer Stars der Wiener Bühnen zu erleben sind.

Vergangenheit kann eine Droge sein; Österreich genießt sie hochdosiert. Reichenau an der Rax, eine alte Sommerfrische in den Wiener Bergen, gilt als eine exemplarische Stätte dieses Kultes, seit 28 Jahren richtet es die größten Theaterfestspiele des Landes aus. Jeder Sommer bringt vier Premieren mit den Stars der Wiener Bühnen. Wenn im Frühjahr die ersten Plakate ausgehängt werden, so dauert es nicht lange, bis eine weiße Schärpe quer darüber prangt: „ausverkauft“. Es klingt weder triumphierend noch bedauernd, sondern zeigt lediglich eine gegebene Sache an. So ist es eben, und so ist es immer. Sie könnten es auch gleich auf die Plakate drucken.

Renate und Peter Loidolt sind die geistigen Eltern dieser Erfolgsgeschichte. Zwei Theaternarren, durchaus liebenswürdige und geschäftstüchtige Narren freilich, die zunächst einen Kulturverein ins Leben riefen, um das überreiche Erbe des Tals zu erwecken. Von Beginn an trug das Festival sich größtenteils selbst. Dramaturg Hermann Beil, der hier gerade den „Professor Bernhardi“ inszeniert hat, schwärmt gar vom „Reichenauer Wunder“. Mögen andere die Kultur zusammenstreichen, du, glückliches Österreich, festspiele. Ein Bergdorf, das nicht mehr Einwohner zählt als Ziesar oder Erxleben, stemmt ein Festival, das doppelt so viele Besucher anzieht wie das Berliner Theatertreffen. Darin manifestiert sich eine spezifisch österreichische Leidenschaft und die sie tragende – und zugleich von ihr getragene – Schicht, das Bildungsbürgertum.

Ein Stelldichein der Kaffeehausbesitzerinn, Fabrikanten und Galanteriespengler

Vor dem Festspielhaus, dem einstigen Dorfkino, gibt legere Eleganz den Ton an. Die Herren im Sommeranzug, die Damen ad libitum, bis auf die obligate Perlenkette. Geblümtes wird zur Schau getragen, hie und da sticht Pink hervor, Zebras und Leoparden schleichen umher, mitunter mischt sich ein Dirndl drunter. Die Venus von Willendorf kommt im großen Schwarzen. Dazu Requisiten wie Strohhut, Fächer oder Gehhilfe. Über dieser in Ehren ergrauten Gesellschaft liegt ein Abglanz von Kakanien: die Kaffeehausbesitzerin, der Lusterfabrikant, der Galanteriespengler. Es zeigt sich auch mal der Landeshauptmann oder der Bischof. Doch niemand macht ein Aufhebens davon.

Österreichs Schwerindustrie ist die Kultur. Sie besitzt in der Gesellschaft einen Stellenwert wie nirgendwo sonst. Die Zeitenwende nach dem Ersten Weltkrieg hat ihre Bedeutung noch gestärkt. Politisch mochte Österreich verspielt haben, doch geistig konnte es noch immer Großmacht sein.

Die Rax und der benachbarte Semmering, dessen charismatisches Südbahnhotel bis vor Kurzem als zweite Spielstätte diente, waren die Magnetberge der Wiener Moderne. Ein literarisches Alpinum, bestückt mit allem, was um die Jahrhundertwende Rang und Namen hatte. Schnitzler schuf hier „Leutnant Gustl“, Werfel ersann seinen Verdi-Roman, Musil rang mit dem „Mann ohne Eigenschaften“, und während ein gewisser „Zweig, Stefan, Privatier“ sich ins Fremdenbuch eintrug, zog es Peter Altenberg mit Macht ins Kindheitsparadies zurück: „ohne Reichenau kein Sommer, kein Leben, kein Glück“. Hofmannsthal radelte stramm, Doderer frönte dem Tennisspiel, Freud erklomm die Rax. Schönberg komponierte hier die „Verklärte Nacht“, Berg legte letzte Hand an den „Wozzeck“, und Alice von Herdan, nachmalige Zuckmayer, unterrichtete Rudolf Serkin.

In der Ära Peymann wurden die Festspiele zum "Gegenburgtheater" stilisiert

Man könnte in Verehrung erstarren – und genau das ist das Problem. Gegen die übermächtige Welt von gestern ist kaum anzukommen. Altösterreichische Literatur bildet denn auch das Rückgrat der Festspiele, dargeboten von den Publikumslieblingen, wenn möglich in heimischem Zungenschlag. Dabei gibt „Schauspielertheater“ (seelenvoll und sublim) den Ton an, in Abgrenzung zum „Regietheater“ (aufdringlich, schroff, reißerisch).

Auch wenn die Macher es selbst nicht darauf anlegten, wurden die Festspiele in der Ära Peymann zum „Gegenburgtheater“ stilisiert, zum Schmollwinkel der Ureinwohner, die hier ihr Missfallen über die feindliche Übernahme durch die Piefkes zum Ausdruck brachten. Ironie der Geschichte, dass der einstige Bürgerschreck in Berlin längst selbst als Kulturkonservativer auftritt. Erst kürzlich ließ Peymann wieder eine Brandrede gegen die „Literaturzerstörung“ in den Theatern los, die zu „Event-Schuppen“ verkommen seien. Wo ist denn nun vorne und wo hinten?

Auch der legendäre Thalhof wurde neu belebt

Ella Rentheim (Julia Stemberger) und Borkman (Martin Schwab) in der Inszenierung "Bankier Borkman".
Ella Rentheim (Julia Stemberger) und Borkman (Martin Schwab) in der Inszenierung "Bankier Borkman".

© Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

In Österreich, dem Gelobten Land des Theaters, scheinen die Verhältnisse noch klar, die Hochkultur hält sich unangefochten an der Macht. Alfred Kirchner hat Ibsens „John Gabriel Borkman“ auf die Festspielbühne gebracht. Mit Martin Schwab, Regina Fritsch und Julia Stemberger als Trio infernale, das darstellerisch seinesgleichen sucht. Kirchner, einst selbst ein Enfant terrible des Regietheaters, zeigt überraschend viel Verständnis für den Unmut des Publikums. „Experimentelle Inszenierungen führen eben nur selten zu ganz großen Ereignissen.“ Ihm sei es um die Essenz der Stücke und der Seelen zu tun. Die sich in einem solchen Ambiente womöglich leichter offenbart: „Ich glaube an die Kommunikation mit diesen Geistern, die hier herumschwirren.“

Wenn wir nur wüssten, wie Arthur Schnitzler seinen Professor Bernhardi hätte sehen wollen. Hermann Beil nähert sich dem Stück behutsam, als wolle er diese geschäftige Männerwelt auf keinen Fall stören. Joseph Lorenz gibt die Titelrolle weltläufig-versiert, und Peter Matić als Herrn Minister zu erleben, als einen Virtuosen der Macht, lohnt allein schon die Fahrt nach Reichenau.

Und dann konzertiert ja noch Rudolf Buchbinder. Wenngleich er drunten in Grafenegg sein eigenes Festival hat – in Reichenau ist er aus nächster Nähe zu erleben. Auch hierbei wird heimische Kost geboten: Haydn, Beethoven, Schubert. Er trägt sie akzentfrei mitteleuropäisch vor, freilich in wirbelnder Vitalität, in jeder Hinsicht verschärft, aber trotzdem noch mit Punkt und Komma. Der ganze Saal pfeift die Impromptus im Geiste mit, selbstverständlich kennt man seine Klassiker und schwelgt darin.

„Was wir schon an Ehen gestiftet haben“

Tagsüber erörtern die Wanderer auf den Hütten schon gesehene oder noch zu sehende Vorstellungen. Abends folgt dann die Nachbereitung, etwa im Knappenhof, einem stolzen Anwesen zu Füßen der Rax. Erst treffen die Festspielgäste ein, später die Akteure mit ihrer Entourage. Man diniert auf der Terrasse, die Sterne blinzeln herab, der Blick streicht über Wald und Wiesen. Die Pluhar erscheint. Ein Raunen macht die Runde. Regina Fritsch entdeckt Bernhard Schir, küsst ihm in neckischem Rollentausch die Hand, beide versichern sich eilfertig ihrer vorzüglichsten Hochachtung. Theatervolk! Der Spieltrieb steckt die ganze Abendgesellschaft an. Und es knistert leise. „Was wir schon an Ehen gestiftet haben“, sinniert Renate Loidolt. „Und erst an Verhältnissen.“ Auch das fällt in Reichenau unter Traditionspflege.

Rund um die Festspiele sind noch andere Initiativen entstanden. Der Semmering feiert zusätzlich seinen eigenen Kultursommer, und in Reichenau haben sich zwei weitere Veranstaltungsreihen etabliert. In der Schlossgärtnerei, einer entzückenden Jugendstilanlage, entfaltet ein Literatursalon mannigfache Aktivitäten vom Kindertheater bis zum Schreibwettbewerb.

Den legendären Thalhof belebt Anna Maria Krassnigg neu, viel beachtete Regisseurin, Ko-Direktorin des Max-Reinhardt-Seminars. Mit ihrem Ensemble offeriert sie ein literarisch-dramatisches Programm, das zwar auch vom „einzigartigen historischen Panoptikum“ dieser Landschaft ausgeht, das aber dezidiert auf der Höhe der Zeit sein will, wenn ihr nicht gar voraus. Die erste Saison steht unter dem poetischen Motto „Die Residenz des Flüchtigen“. Der Thalhof könnte beinah als Nationalheiligtum angesehen werden. Seine k.u.k. apostolische Majestät, der Kaiser, weilte hier 128 Mal zur Jagd, Bertha von Suttner und Theodor Herzl gingen ein und aus, und die fesche Wirtin Olga Waissnix betörte die Wiener Geistesgrößen gleich reihenweise. Nach Jahren der Agonie soll nun wieder Leben hier einziehen. Im Hintergrund wirkt ein Mäzen, der schlicht erklärt, dass eine solch illustre Stätte viel zu kostbar sei, um nur darin zu wohnen. „Das gute Österreichische“, befand Wittgenstein einmal, „ist besonders schwer zu verstehen. Es ist subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit.“

Stefan Schomann

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